Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
Vom Netzwerk:
an, diesmal auf meinem Handy, und schmettert ins Telefon:
    »Es ist acht!!!«
    »Ja, Mama, es ist acht. Genau.«
    »Ich habe dich zu Hause nicht erreicht!«
    »Mama, das liegt daran, dass ich im Auto sitze. Ich bin auf dem Weg zu dir. Wir müssen doch zum Arzt.«
    »Ich habe schon gedacht, du hast es vielleicht vergessen.«
    Wie könnte ich.
    Oben bei ihr angelangt, stellt sich dann meistens heraus, dass sie noch gar nicht fertig ist und beispielsweise völlig im Zweifel, welche Bluse sie zur Jeans wählen soll. Oder vielleicht doch lieber eine schwarze Hose statt der Jeans? Schließlich wandert sie dann noch fünf oder sechs Mal zwischen Bad und Küche hin und her, um ganz sicherzugehen, dass der Herd ausgeschaltet ist und kein Wasserhahn läuft. Dann zieht sie sich gaaanz langsam ihren Mantel an und mustert sich eingehend im Spiegel.
    »Schau mal, mein Gesicht! Ich bin so alt geworden. Ganz plötzlich! All diese Falten sind vor zwei Monaten noch gar nicht da gewesen«, sagt sie dann immer.
    »Ach Quatsch, du siehst doch noch viel jünger aus, als du bist. Und jetzt müssen wir wirklich …«
    »Nein, ganz im Ernst«, holt sie aus. »Diese Linie hier – die ist ganz neu, die habe ich noch nie gesehen. Und da am Hals …«, und so weiter.
    Schließlich wandelt sie tief deprimiert die Treppen nach unten, was wegen des Rückenleidens immer einige Zeit beansprucht. Und egal, wie spät wir nun mittlerweile dran sind: Unten angekommen, wird sie erst einmal umständlich ihre Handtasche öffnen, den gerade erst darin verstauten Schlüssel suchen, um dann den Briefkasten aufzusperren, alle Briefe und Reklamesendungen aufzureißen und Seite für Seite zu inspizieren, bevor sie sie wieder zusammenfaltet, wieder in die Kuverts packt und in den Briefkasten zurücklegt, um sie dann bei der Heimkehr erneut herauszuholen.
    Das ist der Moment, in dem mir völlig die Nerven durchgehen und ich losbrülle wie ein wütender Löwe, sodass die Fenster erzittern und das ganze Haus bebt: »Uuuuhaaaaghhh!!!«
    Nein, tue ich natürlich nicht – aber der Impuls ist nur schwer zu unterdrücken: Mit der Oma etwas zu erledigen, das ist immer zum Aus-der-Haut-Fahren – schon bevor man überhaupt richtig aus dem Haus ist.
    Im Wagen vergisst sie dann grundsätzlich, sich anzuschnallen. Wenn man sie daran erinnert, dann antwortet sie mit einem tieftraurigen »Oh nein, das auch noch«. Dann nestelt sie eine halbe Ewigkeit an ihrem Gurt herum. Während der Fahrt blickt sie sich unablässig erstaunt um und beschwert sich über das starke Verkehrsaufkommen. Und nach dem Parken reißt sie immer die Autotür auf und springt mit ungewohnter Behändigkeit aus dem Wagen auf den Radweg – ohne sich umzublicken. Es ist ein Wunder, dass dabei noch kein Unfall geschehen ist.
    »Um Himmels willen!«, kann ich dann nur aufschreien. »Pass doch auf die Radfahrer auf! Es fährt noch mal einer in dich hinein!«
    »Radfahrer?! Hier?«, reagiert sie dann jedes Mal total verblüfft, ganz als schrieben wir immer noch 1970, wo es noch keine Radwege auf dem Bürgersteig gab, auch keine Anschnallgurte und grundsätzlich viel weniger Verkehr. Und vielleicht beginnt für Mama tatsächlich jeder Tag ungefähr im Jahre 1970. Wer weiß das schon …
    Wahrscheinlich geht das mit der Demenz schon eine Weile, nur haben wir es lange nicht bemerkt, weil Mama nämlich immer schon ein bisschen verträumt und verschroben war. Sie gehört beispielsweise zu den Menschen, die nie die Gesichter anderer Menschen erkennen, wenn diese ihr auf der Straße begegnen. Noch nicht mal die ihrer Kinder und Enkelkinder. Sie hat gar keine Beobachtungsgabe. Tausend Mal hat sie uns die Geschichte erzählt von dem Aufsatz, den sie damals als Kind in der vierten Klasse schreiben musste, über den riesigen, blühenden Baum, der die Mitte ihres Schulhofs dominierte. Das Problem war nur, dass Mama in den vier Schuljahren nicht bemerkt hatte, dass dort überhaupt ein Baum stand.
    Sie besitzt auch keinen guten Ortssinn und ist überhaupt nicht in der Lage, Stadtpläne oder Straßenkarten zu lesen, und das, obwohl sie mal als technische Zeichnerin gearbeitet hat. Das alles kannten wir von ihr schon von früher und machten uns keine Gedanken darüber.
    Aber dann schmeckte das Essen plötzlich nicht mehr bei ihr: Die Kinder bekamen die Spaghetti Bolognese bei der Oma einfach nicht runter: »Da ist ja gar keine Tomatensauce dran«, sagten sie. Mama hat nämlich vergessen, dass Tomaten in die Bolognese gehörten,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher