Lippenstift statt Treppenlift
auf dem Holzweg: »Davor habe ich Angst!«, sagte sie. »Viele Leute sagen mir, ein Hörgerät schadet nur. Davon hört man nur noch schlechter.«
»Schlechter? Mit dem Hörgerät hört man schlechter?«, wunderte sich der Arzt, der nun wohl dachte, er habe seinerseits nicht richtig verstanden. »Das kann ja nicht sein!«
»Oh doch!«, erklärte Mama mit Inbrunst. »Sehr viele hören damit schlechter! Das sagen mir die Leute immer wieder!« Tatsächlich gab es nur eine Person, die das sagte: Die andere Oma in unserer Familie, Ömi genannt – meine Schwiegermutter. Sie ist Mamas Freundin und Verbündete. Was die Ömi ganz konkret sagte, war: »Der beste Platz für das Hörgerät ist die Nachttischschublade.« Deswegen schaffte meine Mutter sich erst gar keines an.
Jedenfalls erschrak Mama trotzdem, als sie den Beipackzettel las, und zwar sehr. Als ich sie zwei Tage später anrief, um zu fragen, ob sie das Mittel aus der Apotheke geholt habe und wie sie es vertrüge, ging sie direkt in die Luft: NIE wieder wolle sie etwas von dem Mittel hören, AUF KEINEN FALL würde sie es schlucken, und so weiter. Sie tat ganz so, als würde das Medikament Alzheimer-Demenz auslösen, statt sie aufzuhalten. Deswegen landete es dann in besagter Küchenschublade. Und so hat in unserer Familie jede Oma ihre spezielle Schublade, in der sie unerwünschte Hilfsmittel versenkt.
Erst ein halbes Jahr später, an dem Abend im Krankenhaus, hatte meine Mutter sich endlich damit abgefunden, dass ihr Gedächtnis nicht mehr »ganz so wie mit vierzig« funktioniert. Und dann fuhr ich auf Geschäftsreise. Am Tag vor ihrer Entlassung kam ich praktischerweise zurück.
Es war ein Sonntagabend, es regnete, und meine ganze Familie stand am Flughafen: mein neunjähriger Sohn Linus, mein Mann Andreas und sogar meine sechzehnjährige Tochter Ida (das ist nicht selbstverständlich: In ihrem Alter ist man normalerweise nicht so sehr an Familienaktivitäten interessiert). Offensichtlich hatten sie mich vermisst. Und außerdem hatten sie Hunger: Nicht weit vom Flughafen entfernt liegt ein Landgasthof, den meine Kinder lieben. »Zu Hause gibt’s sowieso nichts zu essen!«, klagte Ida. »Papa hat überhaupt nichts eingekauft.«
»Aber immerhin haben wir uns um deine Mutter gekümmert«, sagte Andreas zu mir, nachdem wir die Bestellung aufgegeben hatten. Fast jeden Tag war jemand von der Familie bei ihr im Krankenhaus zu Besuch gewesen. »Aber sie hat natürlich trotzdem ständig nach dir gefragt.«
»Wie geht’s ihr denn?«
»Viel besser«, sagte Ida. »Das erste Mal, als ich dort war, hat sie mich allen Ernstes mit Lisa verwechselt. Da bin ich ziemlich erschrocken. Aber mittlerweile ist sie wieder wie immer.«
Für den Moment mochte das so sein. Aber ob man sich darauf für die nächste Zukunft verlassen konnte? Wohl kaum.
»Ich mache mir schon Sorgen wegen der Oma. Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll. Vielleicht kann sie bald gar nicht mehr alleine wohnen«, sagte ich.
»Du kannst sie ja fragen, ob sie zu uns zieht«, sagte Ida. »Sie könnte bei Linus im Zimmer schlafen. Auf dem Ausziehsessel.«
»Bei MIR ? Wieso denn bei mir? Dein Zimmer ist doch viel größer, und außerdem …«
»Reg dich ab«, sagte Ida. »War nur ein Witz.«
»Ich glaube, es gibt schon einen Plan, wie’s mit Oma weitergeht«, sagte mein Mann. »Im Krankenhaus haben sie irgendwas für sie angeleiert. Ruf mal Lisa an.«
Und dann erfuhr ich, warum es zu Hause nichts zu essen gab: Samstag früh war Andreas mit Linus im Hallenbad gewesen, und direkt im Anschluss ging es zu meiner Mutter ins Krankenhaus. Danach setzten sie sich erneut ins Auto und fuhren zu Andreas’ Mutter, der Ömi. Dort verbrachten sie den ganzen Nachmittag. Trotzdem wäre noch Zeit gewesen, in den Supermarkt zu gehen.
Doch als Andreas und Linus wieder zu Hause waren, fiel meinem Mann ein, dass er vergessen hatte, Ömi etwas Bestimmtes zu sagen, es ging um einen gemeinsamen Bank-Termin. Er rief sie also an, aber Ömi ging nicht an den Apparat. Er versuchte es wieder und wieder. Vergeblich. Da machte er sich Sorgen, packte Linus noch mal ins Auto, und sie fuhren erneut zu Ömi.
Ömi wohnt quasi am anderen Ende der Stadt – nur dass ihr Haus bereits außerhalb der Stadtgrenze liegt. Man braucht schon einige Zeit von uns bis zu ihr. Als sie endlich wieder dort ankamen, saß sie gemütlich im Wohnzimmer vor dem Fernseher, aber das Telefon lag im Garten, auf einem Lehnstuhl neben dem Sonnenschirm. Also
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