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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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Der Tag, an dem Mama durchdrehte
    E s war ein ganz normaler Tag im September, als bei meiner Mutter die Schallplatte hängen blieb.
    Hätte ich nicht in diesem Moment zufällig angerufen, dann wäre es mir wohl noch eine Weile nicht aufgefallen. So aber …
    »Wie es mir geht?«, schepperte sie in den Telefonhörer, so laut, als müsse sie Baustellenlärm übertönen. Mama ist nämlich schwerhörig, und weil sie sich weigert, ein Hörgerät zu tragen, klappt es bei ihr nicht mehr so gut mit der Lautstärkenregulierung, und ihre Stimme klingt eigentlich immer, als würde sie gleich in hysterisches Schreien kippen. Wenn man mit ihr telefoniert, hat man noch eine Zeit lang danach ein Summen im Ohr und fühlt sich beinahe selbst taub. Heute schwang aber noch etwas anderes in ihrer Stimme mit. Es klang beunruhigend. Ich war mir nur nicht ganz sicher, was es war.
    »Ich sage dir, wie es mir geht«, sagte Mama: »Ich muss mich konzentrieren. Denn ich muss heute noch mein Captopril nehmen!« Allmählich wurde mir klar, was da mitklang. Nämlich nackte Panik.
    »Und dann muss ich noch … was wollte ich sagen? Genau: Dann muss ich noch mein Captopril nehmen. Und dann … Und dann … Und dann … muss ich noch mein Captopril nehmen!!!«
    »Dann nimm doch einfach dein Captopril«, rutschte es mir heraus.
    »Unterbrich mich nicht, das ist nicht so einfach!«, raunzte sie so laut durch den Hörer, dass mein neunjähriger Sohn am anderen Ende der Küche von seinem Nintendo aufblickte. »Ich muss nämlich jetzt noch mein … mein … mein … Captopril nehmen. Und dann? Ach ja: Dann muss ich mein Captopril nehmen. Und dann … Und dann …«
    »Mama! Mama! Hallo, hör mir mal zu: Wie viel Captopril hast du denn schon genommen?«
    »Zuerst muss ich noch …«
    »Wie viel?«, fragte ich.
    »Ich! Weiß! Es! Nicht!« Jetzt schrie sie wirklich.
    »Alles klar«, sagte ich. »Ich bin gleich bei dir.«
    Es war nicht mein erster Notfalleinsatz, in letzter Zeit hatten sie sich gehäuft. Einmal zum Beispiel hatte Mama das Telefon mit der Fernbedienung verwechselt und immer wieder versucht, den brüllenden Fernseher mit der Wiederwahltaste leiser zu stellen. Aber da klang sie eher belustigt als panisch, und als ich bei ihr ankam, hatte sie ihren Irrtum längst bemerkt und versuchte, ihn zu überspielen: » NATÜRLICH kann man den Fernseher nicht mit dem Telefon regulieren«, sagte sie in einem Ton, als sei ich diejenige gewesen, der diese ziemlich merkwürdige Verwechslung unterlaufen war.
    Wenn der Fernseher sich wegen Fehlbedienung nicht mehr leiser stellen lässt, besteht keinerlei Risiko für Leib und Leben. Ganz anders bei der Überdosierung von Medikamenten. Welche Menge Captopril sie wohl schon intus hatte? Und: Was war Captopril überhaupt?
    Hoffentlich nur irgendwelche Vitamintabletten, davon schluckte sie immer eine Menge. Ansonsten musste sie noch Herz- und Bluthochdrucktabletten nehmen, so viel wusste ich. Und dann gab es da noch ein Medikament: das unaussprechliche. Nicht unaussprechlich, weil es so kompliziert auszusprechen wäre. Sondern weil seine Existenz im Haus meiner Mutter nicht erwähnt werden durfte. Sie weigerte sich, es einzunehmen, und versteckte es in einer Küchenschublade. Aber dieses Mittel hieß nicht Captopril, sondern Ebixa, das wusste ich sicher.
    Vielleicht hätte ich sicherheitshalber gleich den Notarzt rufen sollen. Doch auf ein paar Minuten wird es jetzt auch nicht ankommen, dachte ich, und dann parkte ich auch schon vor dem Haus.
    Zum Glück lag Mama nicht bereits im Captopril-Koma, sondern stand an der geöffneten Wohnungstür, die Pillenpackung in der Hand, als ich mich in den dritten Stock zu ihr hochkämpfte. Bis auf einen alarmierten Gesichtsausdruck sah sie aus wie immer: etwas jünger, als sie war. Das Jünger-Aussehen ist Teil ihres Lebensinhalts. Früher behauptete sie zwar immer, so ab siebzig würde sie sich die Haare ganz kurz schneiden lassen und aufhören, sie zu färben, sie würde flache Schuhe tragen und all die Dinge tun, die sie sich ein Leben lang versagt hatte: zum Beispiel beim Schwimmen einfach mit dem Kopf unterzutauchen, ohne Angst um Frisur und Make-up.
    Nun ist Mama aber schon achtzig und macht immer noch auf jung. Auf andere Rentnerinnen mit prothesenbeiger Kleidung und schlohweißen Haaren blickt sie herab, und nach wie vor besitzt sie kein einziges Paar wirklich bequemer Schuhe – obwohl ihr wegen Rückenproblemen jeder Schritt schwerfällt.
    Heute trug sie Jeans zu einem
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