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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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türkisfarbenen Baumwollpulli und einem bunt bedruckten Schal um den Hals – als wäre sie erst um die vierzig. Nur, dass Vierzigjährige sich meist nicht bei 25 Grad im Schatten so unangemessen dick in Baumwollpullis und Schals hüllen. Und im Spätsommer garantiert auch keine Feinstrumpfhosen unter der Jeans tragen.
    Auf Mas Oberlippe hatten sich bereits Schweißperlen gesammelt, und an den Schläfen klebte das Haar, sodass man weiße Ansätze erkennen konnte. Weiße Ansätze! So etwas hatte es früher nie bei ihr gegeben. Weiße Ansätze zeigten, dass es ihr alles andere als gut ging.
    »Ich sage dir: Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist!«, stöhnte sie und ließ sich aufs Sofa fallen. »Ich bin fix und fertig!«
    Kein Wunder, das wäre ich auch gewesen: Die Wohnung glich einem Backofen. Alle Fenster waren verschlossen, alle Samtvorhänge zugezogen, als wollte sie verhindern, dass das kleinste Lüftchen eindringt. Um hier nicht ebenfalls in verwirrte Katatonie zu verfallen, riss ich erst mal alles auf und flutete die Wohnung mit Sonne und Licht, und Mama blinzelte und hielt sich die Hand vor die Augen wie Dracula bei Tagesanbruch. Aber wenigstens hörte sie nun auf zu schwitzen und erholte sich ein kleines bisschen.
    Jedenfalls stellte sich heraus, dass es sich bei Captopril um ihr Bluthochdruck-Mittel handelte. Und außerdem, dass die Packung noch völlig unberührt war, zum Glück. Lage für Lage breitete Mama die Tabletten für mich auf dem Couchtisch aus, als müsse sie einen Beweis erbringen. Dann nahm sie noch die Packungsbeilage heraus und faltete sie umständlich auseinander.
    »Und?«, sagte sie erwartungsvoll. »Was meinst du?«
    »Anscheinend hast du ja noch gar kein Captopril genommen. Also kannst du auch nicht zu viel davon genommen haben. Es sei denn, du hast noch eine Packung …«
    Bei diesem Stichwort sprang sie auf (soweit man das aufspringen nennen kann, wenn es jemand im Rücken hat) und brachte mir noch eine Packung Captopril – auch völlig unberührt.
    »Weißt du«, sagte sie und senkte die Stimme. »Diese hier sollte ich eigentlich gar nicht besitzen. Die hat mir die Tremel mal aus Versehen verschrieben, als ich fast noch eine ganze Packung hatte.« Die Tremel ist ihre Ärztin. »Und gestern habe ich die neue Packung aus der Apotheke geholt. Meinst du, ich bekomme jetzt Ärger?«
    Einiges von dem, was meine Mutter mittlerweile so von sich gibt, hätte sie früher allenfalls ironisch gemeint. Deswegen weiß ich manchmal nicht, was ihr voller Ernst ist und was nicht, und reagiere oft total falsch: »Klar«, sagte ich. »Das gibt einen Riesenärger! Da steht bestimmt Gefängnis drauf!«
    »Nein!!! Wirklich wahr?!«, antwortete sie, und mir wurde klar, dass sie das einen Moment lang tatsächlich glaubte.
    »Nein, natürlich nicht. Es ist ja schließlich nicht gesetzlich verboten, zwei Packungen Captopril zu besitzen.«
    »Nein, natürlich nicht!«, sagte Mama und versuchte sogar, ein bisschen zu lachen. Aber sie blickte immer noch etwas besorgt.
    »Jedenfalls: Anscheinend hast du noch gar keine Tablette genommen, also kannst du ja auch nicht zu hoch dosiert haben. Also ist alles gut.«
    »Meinst du?«, sagte meine Mutter und klang alles andere als beruhigt.
    Nein, das meine ich eigentlich nicht. Natürlich ist nicht alles gut, wenn ein Mensch sich plötzlich überfordert fühlt von der simplen Aufgabe, eine Tablette, die er nun seit wohl zwanzig Jahren täglich schlucken muss, einzunehmen. Oder den Fernseher mit dem Telefon leiser stellen will. Das ist gar nicht gut.
    Darum war ich mit ihr auch schon beim Neurologen gewesen. Das Problem war nur: Mama weigerte sich, die Diagnose des Mannes anzuerkennen und die verschriebenen Tabletten – Ebixa, das Alzheimer-Mittel – einzunehmen. Wenn ich davon anfing, flippte sie völlig aus und warf mich aus der Wohnung.
    Darum erwähne ich den Neurologen und die Krankheit und die Tabletten gerade lieber nicht.
    Zum Glück habe ich eine gute Freundin, die Ärztin ist. Die sagte, es sei sowieso nicht erwiesen, dass Tabletten bei dieser Diagnose helfen. Sie sagte auch, dass es sein kann, dass der Zustand meiner alten Mutter sich über die Jahre nicht unbedingt verschlechtert. Bei manchen Leuten bliebe er ziemlich konstant. Manchmal beruhigte mich dieser Gedanke.
    An jenem Tag im September aber nicht: Von »konstant« konnte gerade nicht die Rede sein, und natürlich merkte meine Mutter das selbst. Das war sicher auch der Grund für ihre Panik.
    Am
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