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Die Schwester der Nonne

Titel: Die Schwester der Nonne
Autoren: Susan Hastings
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Der Prinzenraub
    Als Hieronymus Preller vor die Tür seines Handelshauses trat, blieb er einen Augenblick stehen und blickte sich um. In den Gassen und auf dem Marktplatz drängten sich die Menschen. Sie lärmten und lachten, stritten und feilschten. Bauern trieben ihre Maultiere, Esel und Pferde voran, Knechte steuerten mit Karren und Wagen durch die engen Straßen.
    Auf einer freien Stelle vor dem Rathaus zogen Gaukler und Fahrensleute ihr Publikum in den Bann. Das nutzten Gauner und Taschendiebe für ihr Handwerk, und irgendwo schrie eine bestohlene Marktfrau, als ginge es ihr ans Leben. Niemand kümmerte sich um sie.
    Ein Seiltänzer versuchte, auf einem Hanfstrick zu balancieren, der zwischen zwei hölzernen Balkonen gespannt war, ohne den Leuten auf die Köpfe zu fallen. Schon schlossen die ersten Zu­schauer Wetten ab, wie lange sich der Seiltänzer wohl oben halten könne. Ein Gaukler jonglierte mit brennenden Fackeln, und ein kleiner gefleckter Hund tanzte auf den Hinterbeinen und hielt einen Hut in der Schnauze, um ein paar Kupfergroschen zu erbetteln.
    Die Sommerhitze dieses Julitages Anno Domini 1455 staute sich in den Gassen der aufstrebenden Handelsstadt Leipzig, und aus den offenen Abwasserrinnen stiegen vielfältige Gerüche hinauf zu den geöffneten Fenster der Häuser, aus denen neugierige Bewohner schauten.
    Der Marktplatz bildete das Zentrum der Stadt wie auch das Zentrum des Handels. Dieser Handel hatte die Stadt reich ge­macht, davon zeugte nicht zuletzt die immense Bautätigkeit. Das Rathaus mit seinen gotischen Treppengiebeln, spitzen Dachreitern und dem hübschen Turm kündete von dem Stolz der Leipziger Bürger auf ihren Reichtum. Rund um den Marktplatz standen stattliche Bürgerhäuser, teils in massiver Bauweise, teils mit vorspringenden Fachwerkgeschossen, sowie Handelsfaktoreien. Auch das Handelshaus Preller hatte seinen angemessenen Platz am Karree des Marktplatzes.
    Zufrieden strich sich Hieronymus über sein Wams. Trotz der Wärme trug er Strumpfhosen aus feinstem Wollstoff, und das Wams aus dunkelblauem Samt war mit Goldfäden bestickt. Seinen barettartigen Hut zierte eine lange, edle Feder. Respektvoll machten die Leute ihm Platz, während er langsam über den Marktplatz schlenderte, hier und da die angebotene Ware begutachtete und sie schließlich wieder zurücklegte.
    Hieronymus war ein Kaufmann und hatte das Handelshaus bereits von seinem Vater geerbt. Der bevorzugte Platz am Markt war auch seinem Vater zu verdanken, der sich um den Handel der ehrgeizigen Stadt verdient gemacht hatte. Nun trat der Sohn in seine Fußstapfen und führte die Geschäfte weiter. Er hatte den Handel bereits mit der Muttermilch eingesogen und die weit ­reichenden Beziehungen nach Böhmen, nach Norditalien und Frank­reich, nach Holland und nach Polen vertieft. So war die Familie Preller zu einem ansehnlichen Wohlstand gelangt. Das wussten auch die Ratsherren der Stadt zu würdigen. Wenngleich der Kaufmann Preller ihnen nicht ganz ebenbürtig war – man begegnete den »Pfeffersäcken« mit einem gewissen Misstrauen –, so nahm er doch einen gewissen Platz in der Honoratiorenordnung der Stadt ein.
    Die Herolde vor dem Rathaustor ließen ihre Fanfaren ertönen, und gleich darauf öffnete sich die schwere Tür. Zuerst erschien der Bürgermeister, umringt von den Ratsherren, alle in ihrem besten Staat. Über ihnen flatterten die Fahnen, mit denen das Rathaus festlich geschmückt war.
    Hinter dem Rücken des Bürgermeisters trat eine wunderschöne junge Frau hervor, hielt sich jedoch züchtig zurück und den Blick gesenkt, als die vielen Menschen vor dem Rathaus ihnen zujubelten.
    »Wer ist das?«, fragte Hieronymus einen Gelehrten in langem, dunklem Umhang, der zufällig neben ihm stand und ebenfalls das Treiben beobachtete.
    »Das wisst Ihr nicht, Herr? Es ist Elisabeth, die Tochter des Bürgermeisters. Jetzt weiß ich, warum er sie immer so gut versteckt hielt. Sie ist wunderschön.«
    Das fand Hieronymus ebenfalls. Er konnte nicht anders, als sie anzustarren, auch wenn sich das nicht geziemte, und dabei war er nicht der Einzige. Ihre Schönheit war wirklich atemberaubend. Ein Gaukler versuchte, der Schönen eine Blume zu überreichen, doch die Wachen drängten den gar zu Aufdringlichen rüde zurück. Dieser stolperte über ein Schwein, das unter den Marktbuden nach Fressbarem suchte, und landete selbst in den Abfällen.
    Das Gelächter der Umstehenden war groß, und der Unglückliche errötete so
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