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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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klare Denken und macht sie irrational und wirr. Und mir gelingt es fast nie, sie zu beruhigen. Vielleicht bin ich auch einfach zu ungeduldig, zu schnippisch, zu leicht genervt. Und ich weiß: Das hat sie nicht verdient. Sie hat Geduld verdient, wie sie sie immer mit uns hatte.
    Mama war als junge Frau auf den ersten Blick nicht gerade der Muttchen-Typ. Dazu war sie viel zu sehr auf ihr Erscheinungsbild fixiert, und auf ihre berufliche Unabhängigkeit. Sie gehörte ja zu einer der ersten Generationen von Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen konnten. Nach der Scheidung von unserem Vater war Mama froh, dass sie als technische Zeichnerin einen Job hatte, mit dem sie uns ernähren konnte. Attraktiv war sie außerdem, auffällig gekleidet, mit hochhackigen Schuhen, tiefem Ausschnitt, roten Lippen, langen Haaren. Sie hatte Verehrer in Scharen. Sie war eine Frau, bei der man hätte denken können, die Kinder liefen so nebenher.
    Dabei war es ganz anders: Wir standen im Zentrum ihres Lebens, und damit alle unsere Kindersorgen und Wehwehchen. Mama war nie ungeduldig, nie desinteressiert. Sie war der Meinung, man müsse Kinder mindestens ebenso für voll nehmen wie Erwachsene. Wie gleichberechtigte Partner nahm sie uns zu jeder Einladung mit, die sie besuchte. Und wenn das jemandem nicht gefiel – was nicht selten vorkam, denn in den Siebzigerjahren war es noch nicht üblich, die Kinder überallhin mitzuschleppen –, dann ging sie da einfach nicht mehr hin.
    Waren wir krank, bekümmert oder müde, dann verwöhnte sie uns nach Strich und Faden, mit Wärmflaschen und Teechen und Süppchen, mit denen sie uns fütterte. Und sie war immer auf unserer Seite: Wenn ein Lehrer sich über uns beschwerte, dann war es erst einmal er, der einen Beweis für unser Fehlverhalten zu erbringen hatte. Und selbst wenn er das konnte, wurde er von ihr beschuldigt, nicht in der Lage zu sein, pädagogisch zielfördernd mit uns umzugehen. Einen neuen Mann ließ sie übrigens (wegen uns, sagte sie) nie ins Haus.
    Wir durften alle Freundinnen und Freunde mit nach Hause bringen, wir konnten die Musik aufdrehen, den Kühlschrank leeren, sogar die Hausbar. Und immer durften wir Mamas wunderbare Klamotten ausleihen, ihre Schminksachen, ihr Parfüm – nur die Schuhe nicht. »Leider!«, sagte sie, denn sie trug 39, meine Schwester und ich aber zwei Größen kleiner. Eigentlich war es herrlich mit Mama. Nur manchmal …
    Manchmal flippte sie wegen eines einzigen nicht von uns abgespülten Glases in der Küche aus, schrie hysterisch, weinte, sprach tagelang kein Wort. Einmal sperrte ich mich ein, um ihren Launen zu entgehen, da schlug sie so hart an die Glastür, dass sie brach und Mama sich an den Scherben die Hand verletzte. Ich war schon im Studium, da brauste sie eines Tages wegen eines nichtigen Grundes so auf, dass sie mir mit Schwung von Weitem einen Teller entgegenwarf. Er landete auf meinem Fuß, und ich musste in die Klinik zum Nähen. Oft dachten meine Schwester und ich, mit Mama stimme etwas nicht.
    Ebenso oft wünschten wir uns damals, sie würde doch einen Mann ins Haus lassen – dann hätten wir endlich ausziehen können, denn sie wäre nicht allein gewesen. Als ich es dann endlich schaffte zu gehen, war sie aber nur ein paar Wochen beleidigt und dann jahrelang wie eine gute Freundin. Und schließlich, als ich selbst Mutter wurde, entwickelte sie sich zur wunderbaren Oma, die oft die Kinder hütete.
    Nur manchmal … da flippte sie nach wie vor noch aus. Und es wurde über die Jahre eher schlimmer. Nach und nach verfeindete sie sich mit allen Freundinnen und Freunden, allen Bekannten und Weggefährten, den meisten Nachbarn und sogar fast allen Verwandten, bis nur noch ganz wenige übrig waren. Tagelang, wochenlang beklagte sie sich, schlecht behandelt worden zu sein, erzählte von unfassbaren Grobheiten, die andere ihr angetan hätten, und konnte davon gar nicht mehr aufhören.
    Irgendwann wurden diese Berichte ganz irreal: Einer ihrer Orthopäden habe sich brutal auf sie geworfen – aber sie hätte es eigentlich nicht erzählen wollen, ihr glaube sowieso kein Mensch. Oder: Der Zahnarzt habe ihr gesunde Zähne gezogen und stattdessen falsche eingesetzt, gegen Mamas Willen. »Aber das glaubt ihr natürlich auch wieder nicht!«, herrschte sie uns dann an, und meine Schwester und ich konnten uns nur vielsagende Blicke zuwerfen. »Die spinnt wieder«, raunte Lisa mir später zu. »Es wird immer schlimmer.«
    Heute denke ich: Das
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