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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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ab ihrem fünfzigsten Lebensjahr, und zwar ziemlich zufrieden und gesund vierzig Jahre lang bis über ihren neunzigsten Geburtstag hinaus. Warum sie die Stützstrumpfhosen trug, fanden wir nie heraus. Erst kurz vor Schluss wusste sie nicht mehr so recht, wo und wer sie war, da sagte mein Vater: »Jetzt wird die Oma ein bisschen senil!« Das fand man ganz normal.
    Noch eine alte Frau aus meiner Kindheit fällt mir ein: ein buckliges Weiblein, das bunte Kopftücher trug und in einem windschiefen Häuschen am Ende der Siedlung wohnte. Wenn jemand an ihrem Garten vorbeiging, schwang sie ein Holzscheit und kreischte erschreckende Dinge von teuflischen Teufeln. Trotzdem spürten wir: Sie hatte noch tausendmal mehr Angst vor uns als wir vor ihr. Wir nannten sie »die irre Hexe«.
    Ich wünsche mir sehr, dass Mama später zu denen gehört, die glücklich auf der Terrasse sitzen. Aber oft habe ich Angst, sie wird vielleicht mal eine irre Hexe. Sie ist jetzt schon gar nicht sonnig und glücklich, sondern meistens ausgesprochen schlecht gelaunt, und zwar (unabhängig von Demenz oder nicht) schon seit Jahren. Für Mama ist das sprichwörtliche Glas nicht nur halb leer – es ist außerdem vom Tisch gefallen und in tausend Scherben zersplittert, von denen eine ihr beim Aufheben den Daumen aufgeschnitten hat. DAS ist meine Mutter. Die Zeiten, in denen sie eine fröhliche und strahlende Frau war, sind schon ein paar Jahre her.
    Wer negativ in die Welt blickt, wird von ihr natürlich selten positiv empfangen. Deswegen beschwert sich Mama nun schon seit Jahren darüber, dass sie überall so schlecht behandelt wird. Besonders beim Arzt. Das ist auch kein Wunder: Weil sie immer so aufgeregt ist, wenn sie zum Doktor muss, vergisst sie beim Betreten der Praxis in der Regel zu grüßen. Schilder mit der Aufschrift »Bitte halten Sie Diskretionsabstand« ignoriert sie grundsätzlich, einfach, weil sie sie gar nicht wahrnimmt: Meine Mutter hat Schilder ihr ganzes Leben lang meist nur dann bemerkt, wenn sie direkt auf Augenhöhe vor ihr Gesicht gehalten wurden – was in der Regel selten vorkommt.
    Also quetscht sie sich neben den Patienten, der bereits am Tresen der Sprechstundenhilfe steht, und beginnt, nervös schnaubend in ihrer großen schwarzen Handtasche zu wühlen, bis sie schließlich ihre Krankenkassenkarte findet, die sie der Praxisangestellten wortlos entgegenstreckt.
    Kommt dann ein Kommentar wie »Bitte nicht vordrängeln«, oder ein spitzes »Guten Tag, erst mal«, dann ist sie vollkommen fassungslos und gekränkt, fühlt sich vor den Kopf gestoßen und schwört, diese Praxis nie wieder zu betreten.
    »Mama, warum grüßt du denn nicht mehr, wenn du einen Raum betrittst?«, habe ich sie mindestens tausendmal gefragt.
    »Ich wollte nicht stören«, sagt Mama dann, oder: »Ich wollte nicht lästig sein.« Oder sie sagt: »Selbstverständlich grüße ich!« Und grüßt weiterhin nicht. Es ist, als wüsste sie nicht mehr so recht, wie zwischenmenschliches Verhalten funktioniert.
    Genau genommen macht Mama beim Arztbesuch immer alles falsch: Einmal, es war bei der Akupunktur, da hieß es, sie solle noch im Wartezimmer Platz nehmen.
    »Aber wo ist das Wartezimmer?«, fragte sie (obwohl sie das nach all den Besuchen natürlich hätte wissen können).
    »Sie müssen gleich rechts zur Tür neben der Toilette«, sagte die Sprechstundenhilfe. Mama nahm das wörtlich. Darum stand sie dann da, ungefähr eine halbe Stunde lang. Rechts an der Tür neben der Toilette. Danach war sie natürlich mal wieder stinksauer und sagte, dass sie nie wieder zur Akupunktur gehen würde.
    Mittlerweile habe ich mir angewöhnt, sie nach Möglichkeit zum Arzt zu begleiten. Was aber nicht immer einfach ist: Schon die Terminfindung ist ein Problem. Vor zehn, elf Uhr bewegt Mama sich ungern aus dem Haus, obwohl sie meist früh wach ist. Ich kann aber nur frühmorgens, schließlich gehe ich einem Beruf nach. Darum halte ich mich nicht an ihre Vorgaben und vereinbare die Termine so, wie ich es schaffe.
    »Neun Uhr«, sagt sie in solchen Fällen schwermütig. »Um Gottes willen! Das ist ja entsetzlich!« Es klingt, als hätte man ihr von einem schrecklichen Unglücksfall berichtet.
    Gegen sieben Uhr ruft sie dann das erste Mal bei uns zu Hause an: »Du weißt schon, dass wir heute zum Arzt müssen!!!«
    »Natürlich, Mama.«
    »Und, wann kommst du?!«
    »Wie besprochen: Es reicht völlig, wenn ich um 8 Uhr 15 bei dir bin.«
    Spätestens um acht Uhr ruft sie wieder
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