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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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wollen.«
    Ich verdrehte die Augen: Tausendmal hatte ich ihr schon gesagt, sie solle beim zwanzigsten bleiben. Aber sie hörte ja nie auf mich.
    Es war nämlich folgendermaßen: Mama war eine Hausgeburt, und eine Zeit lang hatte sie geglaubt, sie sei an einem neunzehnten geboren worden. So steht es in ihrer Geburtsurkunde, so steht es auch in ihrem Personalausweis und in ihrem Reisepass. Vor rund sechzig Jahren dann erzählten ihre Eltern ihr ganz nebenbei, dass es tatsächlich bereits kurz nach Mitternacht gewesen sei, als sie das Licht der Welt erblickte. »Aber da war ja schon der zwanzigste und nicht mehr der neunzehnte!«, sagte meine Mutter, worauf mein Opa erwidert haben soll: »Ist doch völlig egal!«
    Meiner Mutter aber nicht. Fortan feierte sie ihren Geburtstag immer am zwanzigsten Mai, und sie gab dieses Datum auch überall an: bei der Krankenkasse, bei jedem Arbeitgeber, später auch bei der Rentenanstalt. Nur Pass und Geburtsurkunde ließ sie niemals korrigieren – vielleicht kam sie einfach sechzig Jahre lang nie dazu.
    Dass es sich so zutrug, weiß ich noch aus der Zeit, als meine Mutter sich selbst daran erinnerte: Sie hat die Geschichte ab und an erwähnt. Leider vergaß meine Mutter irgendwann die Umstände rund um die unterschiedlichen Geburtsdaten so gut wie vollständig.
    Dann passierte, was in den letzten Jahren öfter vorkommt: Wenn Mama etwas nicht mehr weiß, dann denkt sie sich eine Geschichte aus. In diesem Fall lautet sie folgendermaßen: Irgendwelche Ämter hätten einen Fehler in ihre Papiere gebracht, und als sie diesen Fehler korrigieren wollte, hätte der zuständige Sachbearbeiter sich mit den Worten »ist doch völlig egal« rundheraus geweigert. Das erzählt sie immer und immer wieder. Denn wenn Mama auch so einiges vergisst: Geschichten, die sie sich ausdenkt, um zu vertuschen, was sie vergisst – die vergisst sie nie.
    Mama setzte also an, der verblüfften Aufnahmeschwester die Umstände ihrer doppelten Geburtsdaten zu erläutern. Dazu kramte sie tief in ihrer ausladenden Handtasche nach Ausweisen, Briefen, Unterlagen und anderen Beweismitteln, und als sie den Kopf wieder aus der Tasche zog, hatten die Schwester und ich uns schon nonverbal über Augenverdrehen, Brauenheben und Kopfnicken verständigt. Deswegen komplimentierte sie Mama zurück auf die Wartebank und ließ mich die Formalitäten regeln, zum Glück.
    Über die Gründe für unser Erscheinen musste ich mich nach diesem kleinen Vorfall dann gar nicht mehr groß auslassen – die Schwester war im Bilde und tippte eifrig in den Computer. Dann schickte sie Mama zur Urinprobe und schließlich in einen Behandlungsraum mit Liege ganz am Ende des Ganges.
    Da saßen wir dann im Neonlicht und warteten. Und warteten. Anscheinend waren meine Beziehungen doch nicht so gut – wahrscheinlich war es schon zu lange her, dass meine Freundin hier gearbeitet hatte. Man konnte hören, wie sich die Behandlungszimmer nebenan füllten und wieder leerten. Es wurde immer später und später. Wie es in Notaufnahmen eben so ist.
    Schließlich kam eine Schwester und fragte, welche Tabletten meine Mutter einnehme und was das Problem sei. Und Mama sagte: »Schwester, wir kommen zu Ihnen, denn ich habe Schmerzen im rechten Bein! Und im Rücken auch, besonders wenn ich mich bücke …« Da musste ich wieder sehr viel unauffällig mit dem Kopf schütteln und gestikulieren und flüstern, und die neue Schwester schrieb ebenfalls ganz fleißig in den Patientenbogen.
    Als sie draußen war, sagte ich: »Mama, wir sind doch heute nicht wegen der Rückenprobleme da.«
    »Ja, aber ich habe doch Rückenprobleme! Und das Bein tut weh, hier, sieh mal, ich bin ganz schwach im rechten Bein …«
    Und das stimmte natürlich. Es ist nur so: Die Schmerzen sind chronisch, aber mit Schmerzmitteln einigermaßen erträglich. Eigentlich weiß sie das, nur heute nicht, deswegen musste ich ihr das alles erneut ganz ausführlich erklären: dass wir NICHT wegen des Rückens im Krankenhaus sind.
    Sie hört zu und nickt, aber man merkt: So richtig kann ich nicht zu ihr durchdringen. Es ist nicht, weil sie das grundsätzlich nicht mehr verstehen würde. So weit ist sie mit ihrer Vergesslichkeit noch nicht. Wenn sie sich konzentriert und ruhig ist, versteht sie rational eigentlich noch alle Zusammenhänge.
    Das Problem ist, dass sie nur noch selten ruhig ist. In letzter Zeit befindet sich Mama in permanentem Ausnahmezustand. Alles macht ihr Angst. Die Panik erschwert ihr das
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