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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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mit!«, flüsterte sie, als wären Wanzen in der Wohnung angebracht. Es war sehr geheimnisvoll, wie ein Detektivspiel.
    Wir schlichen ganz leise ins ehemalige Kinderzimmer, wo noch Lisas altes Klavier steht. Vor dem Klavier legte Mama sich plötzlich auf dem Teppichboden auf den Bauch, und ich tat es ihr nach. Zwischen dem Boden des Klaviers und dem Teppichboden kam ein sehr schmaler Spalt zum Vorschein. Mama machte ihre rechte Hand ganz flach und schob sie in diesen Spalt.
    »Nein, hier nicht!«, sagte sie dann und wiederholte den Vorgang am anderen Ende des Klaviers. Endlich, nachdem sie sechs oder sieben Mal danach gefischt hatte, zog sie mit den Fingern eine Plastiktüte hervor: voller Geldscheine.
    Danach führte sie mich in die Rumpelkammer und kramte dort eine blaue Mülltüte heraus, die so aussah, als sei sie für die Altkleidersammlung gedacht. Das hätte mir gleich zu denken geben sollen: Mama gibt eigentlich nie etwas in die Altkleidersammlung. Die Tüte war nur eine Tarnung. Ganz unten, eingewickelt in ein dunkelblaues Blumenkleid aus den Achtzigerjahren und eine himmelblaue Jeans, war wieder ein Geldpäckchen. Außerdem gab es noch eines in einer leeren Semmelbrösel-Schachtel im Vorratsschrank, und dann war noch ein Umschlag mit Scheinen in einer Küchenschublade.
    »Warum um Himmels willen bewahrst du denn so viel Geld zu Hause auf?«, fragte ich erschrocken.
    »Damit ich immer was dahabe – auch am Wochenende«, sagte Mama.
    »Aber du hast doch eine EC -Karte. Mit der kannst du doch auch am Wochenende Geld abheben.«
    Das wusste Mama, aber es erschien ihr irgendwie zu unsicher, wer weiß warum. Die EC -Karte benutzte sie nur, um Bankauszüge zu holen. Ansonsten war auch sie sicher versteckt, auch in der Semmelbrösel-Schachtel, gleich neben dem Zettelchen mit der Geheimzahl. Mama macht es Räubern wirklich mehr als leicht.
    Auch in ihrem Geldbeutel müssen grundsätzlich immer über tausend Euro stecken, sonst fühlt sie sich unsicher. Wenn sie zur Bank geht, dann nicht, um ein paar Hunderter zu holen, sondern immer gleich ein paar Tausender.
    Sie ist schon seit den Sechzigerjahren bei derselben Bankfiliale, man kannte sie dort, zumindest bis unlängst. Mittlerweile ist nämlich die Letzte der Filialangestellten, die Mama noch von früher persönlich kannte, in Rente gegangen. Deshalb wurde meine Mutter neulich, als sie wieder einmal Geld abheben wollte (natürlich ohne EC -Karte), angesprochen, ob sie sich denn ausweisen könne. Leider war das nicht der Fall, und deswegen gab es auch nichts.
    Da wurde Mama völlig panisch – das, wovor sie immer Angst gehabt hatte, war eingetroffen: Ihr Konto war voll, aber sie bekam einfach kein Geld!
    Es war ganz schwer, sie an diesem Tag zu beruhigen und ihr zu erklären, dass niemand, weder ich noch Lisa noch sonst jemand, einfach so von der Bank Geld bekommt, und dass die Nennung der Kontonummer und die Unterschrift nun mal oft nicht ausreichen. Insgeheim verfluchte ich natürlich die Bankangestellten – glauben die denn, dass Greisinnen, die sich gerade so mit Müh und Not auf ihren alten Beinen in die Filiale schleppen, raffinierte Trickbetrügerinnen sind? Offenbar!
    Jedenfalls nahm sie daraufhin Ausweis und EC -Karte mit in die Bank, und – oh Wunder: Das Geld sprudelte wieder.
    »Na also«, sagte ich. »Wie viel hast du denn abgehoben?«
    »Zweitausend«, sagte Mama.
    »Wieso läufst du eigentlich immer mit so viel Geld herum? Hast du denn gar keine Angst, jemand könnte dir die Handtasche wegreißen und das Geld stehlen?«
    »Nein, wieso?«, sagte Mama. »Wer soll schon auf so eine Idee kommen?« Darauf antwortete ich lieber nicht.
    So sparsam Mama mit sich selbst ist, so großzügig ist sie, was die Enkelkinder angeht. Das ist ein sehr liebenswerter Zug von ihr. Allerdings ist es manchmal ein bisschen schwer, sie dabei zu bremsen.
    An Ostern und zu Nikolaus beispielsweise kauft sie ihnen immer »eine Kleinigkeit« zum Naschen. Bei ein paar Nikoläusen oder Osterhasen belässt sie es dabei nicht. Sie füllt immer gleich pro Kind eine ganze Geschenktüte.
    Jeder kennt die typischen Geschenktaschen aus buntem Geschenkpapier mit einer Kordel als Griff. Im Laden habe ich sie allerdings immer nur in Größen von etwa DIN A4 (oder eben kleiner) gesehen. Mama scheint aber eine ganz spezielle Quelle zu haben, denn sie besorgt sich irgendwoher Geschenktüten, die so groß sind wie handelsübliche Einkaufsplastiktüten von Aldi oder Tengelmann. In dieser
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