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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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solch einer Einrichtung weiterlebten. Und prompt dachte ich: Vielleicht passiert das bei Papa auch! Es ging ihm schließlich schon lange nicht mehr so gut!
    Die Pflegerinnen und Pfleger glaubten langsam auch daran. Man hatte sich ja an Papa gewöhnt. »Ihr Vater ist schon drei Monate bei uns. Da kennt man sich und kann ein persönliches Verhältnis aufbauen«, sagte mal eine Schwester. »Die Leute, die gleichzeitig mit ihm eingewiesen worden sind, sind schon längst nicht mehr da.« Natürlich nicht, weil sie noch einmal kurz umgezogen sind, sondern weil sie tot sind. Das war wieder so ein Moment, in dem mir eiskalt bewusst wurde, wo ich eigentlich war: all die vielen Menschen, die ich hier während meiner Besuche gesehen hatte – die kleine Dame, die immer vorne am Fenster stand, ein alter Herr, der mit seiner Familie oft im Aufenthaltsraum Kaffee trank, die Patienten auf dem Gang und in der Kaffee-Küche, die im Gegensatz zu Papa noch nicht einmal bettlägerig und scheinbar noch viel munterer gewesen waren – alle tot. Und nur er, der Schwächste, lag noch lebend im Bett und trank Whiskey.
    Darum fühlten wir uns dann ganz unvorbereitet, als Papa doch noch starb. Plötzlich wirkte er so abwesend, als horche er auf etwas, ganz weit entfernt. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber es war klar: Es ging ihm nicht gut.
    »Ach was, keine Sorge, den lassen wir jetzt nicht gehen! Das ist vielleicht nur ein kleiner Schnupfen oder so«, sagte meine (und seine) Lieblingsschwester, eine nette, kurvige Frau mit niederbayerischem Akzent. Aber dann ging sie mit hinüber in sein Zimmer und war sofort alarmiert. Sie warf mir nur einen Blick zu, und alles war klar.
    Aber er war zu diesem Zeitpunkt noch absolut ansprechbar, wir redeten mit ihm, er fror wie immer, er wollte eine Wärmflasche, er drehte sich zu der Pflegerin wie zu einer Sonne, und war geistig noch voll und ganz da.
    Am nächsten Tag hatte sich das, was die Pflegerin gesehen hatte, noch verstärkt: Papa war nicht mehr ansprechbar – und er hatte keinen Mund mehr. Das klingt komisch, aber es war genau so. Die vollen Lippen wirkten wie eingesaugt, das ganze Gesicht war eine Grimasse, die jeder kennt: Es ist die verzerrte Mimik aus dem Bild »Der Schrei« von Edvard Munch. Das Gesicht des Todes, wie ich nun weiß. Die Pflegerin hatte es sofort erkannt.
    Dann kam es, das Schlimmste, an was ich mich erinnere, wenn ich an Papas Tod denke: das Sterben selbst. »Ich bin da, Papa, ich bin da«, sagte ich, ich sagte es die ganze Zeit, aber es kam mir albern vor. Es half ja nichts, ich konnte ja nichts tun, nichts verhindern oder aufhalten.
    Er war noch da, aber irgendwie auch nicht. Er röchelte, die Atmung setzte aus, und dann röchelte er wieder, und so ging es eine lange, lange Zeit – keine Ahnung, wie lange genau.
    Irgendwann kam ein Mann, ein Arzt, vielleicht ein Pfleger, und schickte mich heim.
    »Das kann jetzt noch dauern«, sagte er. »Vielleicht zwei Tage. Vielleicht auch drei. Gehen Sie nach Hause zu Ihren Kindern. Morgen ist Weihnachten.«
    Erst später, als Papa tot im Bett lag mit geschlossenen Augen und Christrosen in den gefalteten Händen, da war sein schöner voller Mund zurück. Darüber war ich sehr froh, denn ich wollte Papa gern noch einmal so sehen, wie er gewesen war. Er wurde 76 Jahre, acht Monate und acht Tage alt, aber er hätte gern noch ein paar Jährchen gehabt.
    Lange hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich auf den Pfleger oder Arzt gehört hatte und wirklich gegangen war. Aber mittlerweile ist mir klar, dass ich, als Papa starb, genau am richtigen Ort war: an dem perfekten Ort!
    Als Papa starb, war ich zu Hause und schmückte mit den Kindern den Weihnachtsbaum. Und es war, als wäre er dabei. Ich schwöre, dass seine Anwesenheit ganz deutlich zu spüren war. Und ich spürte, dass er auch in Zukunft da sein würde, so wie er immer am 23. Dezember bei uns gewesen war. Das war sein Tag!
    Als der Baum fertig war und die Kinder im Bett, zündete ich alle Kerzen darauf an und noch viele mehr: Teelichter und Leuchter und Kerzen in roten Glasbechern und alles, was ich finden konnte, bis der Raum strahlte und flackerte und sich ungeheuer aufheizte – es wurde so warm, wie er es gemocht hätte. Dann kam Lisa, und wir riefen Mama an und sprachen mit ihr die ganze Nacht, und weinten und lachten und tranken und hatten einen tieftraurigen und gleichzeitig wunderschönen Abend miteinander.
    Doch danach war unsere Mutter nie wieder die Frau,
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