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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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die sie einmal gewesen war.

Von wegen Altersarmut!
    N eulich gab es wieder Probleme mit Mamas Zähnen. Mama tat, in ihrer üblichen zurückhaltenden Art, natürlich wieder, als wäre die Angelegenheit mit das Schlimmste, was einem Menschen überhaupt widerfahren konnte, denn jetzt musste sie nicht nur erneut » DEN SCHRECKLICH WEITEN WEG « zur Zahnarztpraxis bewältigen und dort » EINE EWIGKEIT « im Wartezimmer herumsitzen. Nein: Sie konnte auch im Vorfeld » NICHT DAS GERINGSTE ESSEN « (das Gebiss war wieder locker).
    »Dabei habe ich solchen Hunger!«, jammerte sie. »Aber pürierte Lebensmittel will ich nicht schon wieder. Wenn ich noch mal was Püriertes essen muss, dann übergebe ich mich. Oh Gott, was soll ich jetzt nur tun? Irgendwas muss ich doch essen! Und ich habe doch gerade schon wieder zwei Kilo abgenommen …« Dann brach sie in Tränen aus.
    Mit anderen Worten: Sie stand mal wieder ganz knapp vor einem Nervenzusammenbruch, aber ich versuchte, sie so gut wie möglich zu beruhigen.
    »Kein Grund zur Panik«, sagte ich, was mir mal wieder einen Kugelblitz-Blick bescherte. Aufforderungen wie »ganz ruhig«, »kein Grund zur Aufregung« oder eben »keine Panik« brachten Mama immer erst recht zur Weißglut, eigentlich wusste ich das. Sie fand nämlich, dass es sehr wohl ständig Gründe zur Panik gäbe.
    »Jedenfalls rufe ich gleich morgen früh in der Praxis an und mache noch für den Vormittag einen Termin für dich aus. Dann hast du den ganzen Ärger schnellstmöglich hinter dir.«
    Das beruhigte sie endlich ein klitzekleines bisschen.
    Ich kümmerte mich also um einen Termin und rief am nächsten Morgen bei Mama an, um ihr mitzuteilen, dass sie tatsächlich gleich um elf Uhr drankommen könnte.
    »Aber dann zahle ich die zehn Euro«, sagte Mama. »Und wenn ich bald wieder hinmuss, zahle ich wieder die zehn Euro!«
    Erst verstand ich gar nicht, was sie meinte.
    »Na, das Quartal ist doch fast zu Ende! Warum soll ich also jetzt im letzten Moment noch mal zehn Euro bezahlen«, erläuterte sie.
    »Aber du wolltest doch unbedingt zum Zahnarzt. Außerdem ist das Quartal noch eine gute Woche lang nicht abgelaufen. Wir haben doch erst den Zweiundzwanzigsten!«
    »Schon, aber wenn ich nun vielleicht neue Zähne brauchen sollte, weil man die alten vielleicht nicht mehr ankleben kann, und die Behandlung dauert länger – dann muss ich zwei Mal zehn Euro zahlen. Darum dachte ich mir, es wäre besser, wenn du den Termin wieder absagst.«
    »Aber du kannst doch gar nichts mehr essen!«
    »Ja, entsetzlich, oder? Ich kann nicht mal eine Banane essen. Ich kann ja gar nichts beißen. Dass mir das wieder passieren musste, immer mir …«
    »Hast du etwa keine zehn Euro mehr?«
    »Na hör mal!«, antwortete sie empört. »Natürlich habe ich zehn Euro!«
    »Dann geh sofort zum Zahnarzt! Keine Widerrede!« Manchmal stand ich auch kurz vor einem Nervenzusammenbruch!
    Es gibt eine Menge Rentner, für die sind zehn Euro eine Stange Geld. Für Mama sind zehn Euro einfach nur zehn Euro. Wohlhabend ist sie nicht (ihr Budget hätte zum Beispiel nie für eine richtige Altenpflegerin gereicht – auch nicht für eine aus dem früheren Ostblock). Doch sie hat genug Geld, um unter normalen Voraussetzungen bestens über die Runden zu kommen, und das, obwohl sie erst relativ spät in ihrem Leben berufstätig wurde. Sie investierte geschickt in eine zweite Rentenversicherung, weil sie wusste, dass ihre Grundrente schmal ausfallen würde. Sie hatte außerdem ein echtes Händchen, was Geld anging, sie spekulierte in den Achtzigerjahren sogar ein wenig an der Börse – ziemlich glückreich. Die Gewinne investierte sie später in ihre Eigentumswohnung, die sie übrigens länger schon abgezahlt hat. Jahrelang war sie deshalb (zu Recht) sehr stolz auf sich und betonte oft, dass sie ja zum Glück nicht zu den bedauernswerten Rentnern gehöre, die von Altersarmut betroffen sind.
    Doch durch die Vergesslichkeit hat Mama nun auch ihre finanzielle Sorglosigkeit eingebüßt. Sie lebt in ständiger Panik, das Geld könnte plötzlich von ihrem Konto verschwinden. Deswegen würde sie sich am liebsten jeden Tag Kontoauszüge ziehen, und ich bin sicher: Wenn sie es nicht in den Beinen hätte, dann würde sie das tatsächlich tun!
    Es ist zwar nicht so, dass sie bereits mit Zahlen durcheinanderkäme. Wenn beispielsweise gerade 6 205,30 Euro auf ihrem Girokonto sind, dann weiß sie genau, dass es 6 205,30 Euro sind. Aber sie hat trotzdem immer
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