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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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bestellte er beispielsweise Rohrnudeln – auch so ein Gebäck, das ich ganz vergessen hatte. »Die gibt’s beim Rischart (das ist ein Café) am Marienplatz. Mein Gott, da wäre ich jetzt gern! Was gäbe ich darum, wenn ich da sein könnte«, sagte er.
    »Was würdest du dort tun?«, fragte ich.
    »Nichts«, sagte er. »Nur sitzen.«
    Es war wahnsinnig traurig, aber auch schön, weil einem in solchen Situationen so viel klar wird über die Kostbarkeit der kleinen Dinge und über das Leben überhaupt. Ich bin sehr froh, dass Papa sich nicht schon davor in seiner Wohnung verabschiedet hat und dass wir die gemeinsame Zeit in dem Hospiz erlebten.
    Natürlich wollte ich ihn sofort zu Rischart an den Marienplatz karren, aber so wollte er das auf keinen Fall, festgeschnallt im Rollstuhl und mit Infusionen am Arm. Aber die Rohrnudeln – die sollte er haben! Doch bei Rischart gab es gar keine mehr. Die junge Verkäuferin verstand überhaupt nicht, was das sein sollte, und holte schließlich eine ältere Kollegin, die uns erzählte, man habe dieses Gebäck schon seit vielen Jahren nicht mehr im Sortiment. Und ich konnte es auch sonst nirgends finden. Erst ein gutes Jahr nach Papas Tod kam ich mal zufällig an dem berühmten Café Schmalznudel am Viktualienmarkt vorbei, und da gab es sie, natürlich! Das hätte ich wissen müssen. Der Anblick der braunen, zuckerbestreuten Rohrnudeln versetzte mir einen regelrechten Stich. Wahrscheinlich werde ich demnächst mal in dieses Café gehen und ein paar verzehren, Papa zu Ehren.
    Eine Zeit lang befand sich Papa mitten im Krieg: Er erzählte, er träume jede Nacht, er sei Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg und werfe todbringende Fracht ab. »Schreckliche Albträume«, sagte er. »Ganz schrecklich. All die toten Menschen. Und diese Schuld!« Aber das waren keine selbst erlebten Episoden: Zum Ende des Krieges war Papa erst neun Jahre alt.
    Er erzählte auch von seinem Hund, einem Foxl.
    »Ich wusste gar nicht, dass du als Kind einen Hund hattest. Wie hieß denn dein Hund?«, fragte ich.
    »Der Foxl? Der hieß Foxl!«
    Plötzlich sprach er nur noch von einer Person: dem Franz. Der Franz hier, der Franz dort. Franz war ein Cousin, mit dem er aufgewachsen war, den er aber lange Jahre nicht gesehen hatte.
    »Papa, soll ich dir den Franz vorbeischicken?«, fragte ich.
    »Ach nein. Oder vielleicht doch. Doch, auf jeden Fall!«
    Also machte ich mich auf die Suche nach meinem Onkel Franz und schickte ihn ins Hospiz. »Du, Franz, ich geh übern Jordan«, waren die ersten Worte, die Papa an ihn richtete, das erzählte mir später der Franz. Es blieb der einzige Hinweis darauf, dass Papa noch wusste, was los war. Wir sprachen nämlich nicht groß über das Sterben, denn das machte uns die Sache leichter.
    Es kamen auch Freunde, Freundinnen, Ex-Kollegen, Nachbarinnen – wir hatten alle informiert, die zu seinem Kreis gehörten, und Papa hielt Hof im schicken Hospiz mit dem super Service, wie er sagte. Alle meinten, da wollten sie später, wenn es mal so weit sei, unbedingt auch hin.
    Mittlerweile war Papa sogar wieder etwas kräftiger geworden, er lag nicht nur ausschließlich im Bett, sondern verbrachte auch immer einige Stunden am Tag sitzend auf einem großen, grünen Ohrensessel. Er aß weiter tüchtig, er sah sehr viel fern und er schäkerte mit den Schwestern, all den jungen Frauen, die den ganzen Tag um ihn herumwuselten, ihm die Heizung aufdrehten, warme Socken holten, Limonade, frisches Obst. Er genoss das, und das zeigte er auch. »Er ist unser Lieblingspatient«, schwärmten die Frauen.
    Abends wurde es besonders kuschelig bei Papa im Zimmer: Ich holte ihm die Zigaretten, zündete ihm nacheinander ein paar an und schenkte den Whiskey ein, und wir prosteten uns zu. Am Anfang hatte ich ein wenig Angst, es könne ihm schlecht werden – er wog ja kaum noch was (trotz des vielen Essens). Aber keine Rede: Die erste Flasche war bald geleert.
    Gedanklich steckte er zu dieser Zeit wieder im Dritten Reich. Eines Morgens kam ich vorbei, da grüßten alle Schwestern verhuscht und sahen mich und Papa komisch an. Eine von ihnen rückte schließlich mit der Sprache heraus.
    »Gestern hat ihr Vater uns den ganzen Tag lang mit dem Hitlergruß gegrüßt. Und da haben wir uns gefragt, was er wohl früher in seinem Leben so getrieben hat!«
    Da wäre ich vor Überraschung fast vom Stuhl gefallen.
    »Aber er war bei Kriegsende doch noch ein Kind. Und außerdem war er immer links!« Papa war mit siebzehn der

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