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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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Freu dich also auf ein schönes, neues, strahlend weißes Gebiss!« Meine Mutter wäre allerdings nicht meine Mutter, wenn sie so denken würde, und daher freute sie sich natürlich nicht.

Liebe Oma
    N un ist es fast auf den Tag ein Jahr her, dass Mama Probleme mit dem Captopril und dem Gedächtnis und allem anderen bekam, und ich muss sagen: Wir zwei haben uns schon lange nicht mehr so gut verstanden wie heute. Das liegt natürlich hauptsächlich an den Psychopharmaka, ist aber trotzdem gut.
    An guten Tagen erinnert mich meine Mutter wieder an früher. Sogar ihre Stimme klingt wieder so – sehr warmherzig und fröhlich. So war sie früher eigentlich immer. Wie sie an schlechten Tagen ist, das habe ich ja nun ein ganzes Buch lang geschildert.
    Wunderbar ist, dass wir auch wieder viel mit ihr unternehmen. Ungefähr zehn Jahre vor der Demenz-Diagnose war Mama nämlich durchgehend beleidigt oder schlecht drauf und war nicht bereit, auch nur ein einziges Mal etwas mit der Familie zu unternehmen. Doch diese Zeit scheint der Vergangenheit anzugehören, und alles ist fast wie früher: Wir gehen oft zusammen essen oder wenigstens zu Kaffee und Kuchen in ein Café. Sie kommt uns besuchen, sie kommt sogar zum Grillen oder in einen Biergarten mit. Mama findet es wieder richtig schön, auszugehen, und sie prahlt bei der Verwandtschaft und bei ihren Freundinnen am Telefon damit, was ihre Kinder nicht alles für sie täten und wohin wir sie nicht alles ausführten. Da ist natürlich auch ein bisschen Angeberei dabei: Tatsächlich ist sie nicht immer ganz froh, wenn ich sie aus dem Haus scheuche. Am liebsten verschanzt sie sich nach wie vor hinter angeblichen Schmerzen auf der Couch und hält dort Hof.
    Es hat sich vieles in ihrem Leben geändert in dem Jahr: Wir Jüngeren haben die Angelegenheit Mama generalstabsmäßig in die Hand genommen. Wir kümmern uns darum, dass sie die erforderlichen Medikamente nimmt (mit Hilfe der Pflegerinnen), dass das Hörgerät getragen wird, der Kühlschrank voll ist, die Rechnungen bezahlt werden. Die meisten Maßnahmen hält Mama für unnötig, ja schikanös, aber es geht nicht anders. Und auch wenn sie schimpft – sie würde sowieso schimpfen, auch wenn wir nichts täten, oder wahrscheinlich dann erst recht. Mama ist jemand, der immer Anlass zur Beschwerde findet.
    Es läuft also alles ganz gut, doch nun werden langsam weitere Maßnahmen erforderlich. Erstens: Mama braucht ein neues Bett mit einer guten Matratze, und am besten auch noch ein neues Sofa, ebenfalls mit einer guten Matratze, denn sie nickt ja oft auf dem Sofa ein. So, wie Mama liegt, sind Rückenschmerzen nämlich vorprogrammiert. Wenn ich nur eine Nacht auf ihrem durchgelegenen alten Bett schlafen würde, müsste ich danach wochenlang zur Krankengymnastik.
    Natürlich will Mama nichts von einem neuen Bett hören. »Was sollen meine Wirbelsäulenprobleme bitte mit meinem Bett zu tun haben?!«, blafft sie nur, aber es hilft alles nichts: Das neue Bett kommt, und wenn sie sich auf den Kopf stellt (was ihr schwerfallen würde).
    Ebenso entschlossen bin ich, das Badezimmer mit Haltegriffen und Wannen-Einstiegshilfen aufrüsten zu lassen, denn es geht nicht an, dass Mama sich weiter nur mit dem Waschlappen am Waschbecken waschen kann. Das wird ein harter Kampf, ich bin darauf gefasst.
    Beim dritten Punkt hat sie noch ein wenig Probezeit: Es geht ums tägliche Spazierengehen. An sich sollte sie nämlich jeden Tag etwa eine Stunde lang gehen. So sagt das der Neurologe. Aber Mama weigert sich. Manchmal habe ich das Gefühl, dass an jedem Tag, an dem sie nur so zu Hause hockt und Löcher in die Wand starrt, unzählige Hirnzellen kaputtgehen. Und immer wenn sie unterwegs ist, wird sie, zumindest kurz, fast so wie früher. Aber sie will den therapeutischen Nutzen des Spazierengehens nicht einsehen.
    »Ich gehe raus, wenn ich Lust habe!«, posaunt sie. »Und heute hatte ich keine Lust. Aus. Punkt, basta!«, oder:
    »Ich wüsste nicht, was ich da draußen soll! Bei diesem Wetter!« (25 Grad, Schäfchenwolken, Sonnenschein, leider von schweren Samt-Vorhängen verdeckt.) Oder:
    »Ich muss nicht raus, ich bin zu Hause schon zweitausend Schritte gegangen. Zweitausend! Ist das etwa nichts!?« Oder:
    »Spazieren gehen? Wo soll ich denn hier um Himmels willen spazieren gehen?!«
    »Na, einfach durch die schöne, grüne Parkanlage, wie alle anderen Leute hier auch!«, wende ich ein.
    »Nein! Auf keinen Fall! Da langweile ich mich ja zu
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