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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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Dabei stellte sich heraus, dass Ömi eine sonderbare Vorstellung von Bedürftigkeit hat, denn sie selbst ist davon meilenweit entfernt. Ömi bekommt nämlich doch eine richtige und ordentliche Rente, und zwar sehr üppig. Ihre monatlichen Einkünfte sind jedenfalls deutlich höher als das, was ich später im Alter einmal zu erwarten habe.
    Meine Mutter weiß die Beträge der einzelnen Posten auf dem Kontoauszug sogar nach wie vor auswendig, so war das schon immer: 51 Euro 60 Cent für Strom, 238 Euro 27 Cent Hausgeld, und so weiter. Wenn sich die allerkleinste Kleinigkeit ändert, dann merkt sie das sofort. Aber plötzlich versteht sie den Unterschied zwischen Haben und Soll nicht mehr. Sie versteht oft nicht, ob sie die 51 Euro 60 Cent von den Stadtwerken abgezogen oder auf ihr Konto einbezahlt bekommen hat.
    Das hat ein wenig mit einer Umstellung bei ihrer Bank zu tun: Die Auszüge werden neuerdings in modernerem Schriftbild ausgeliefert – statt in kräftigen schwarzen Ziffern und Buchstaben erscheinen sie nur noch in einem grauen Hauch von einer Schrift. Sehr hübsch, aber die Buchstaben H und S sind jetzt so zart gedruckt, dass sie selbst für mich nur noch mit der Lesebrille zu erkennen sind.
    Mama hat die Umstellung allerdings völlig durcheinandergebracht. Sie reagierte geradezu hysterisch, und nun muss ich regelmäßig alle Kontoauszüge mehrfach mit ihr durchgehen.
    Die übrigen Schreiben ebenfalls. Bei jedem Besuch wartet schon ein riesiger Stapel Post auf mich, der auch nie so recht kleiner wird, weil Mama nichts weglegt oder wegwirft. Auch ich darf nicht mal Anmerkungen auf den durchgegangenen Briefen notieren, so was wie »erledigt am 24.9.12«, denn sie reagiert regelrecht hysterisch, sobald ich das versuche. Ich muss sogar alle Werbesendungen (zum Beispiel die von irgendwelchen Kabelanbietern) explizit mit ihr durchgehen und besprechen. Immer und immer wieder aufs Neue. Denn weil ich nichts Erledigtes wegräumen darf, legt sie mir ein und dieselben Schreiben und (längst überwiesene) Rechnungen mehrfach vor.
    Mittlerweile sortiere ich einiges heimlich aus: Immer wenn sie kurz in die Küche verschwindet oder einfach wegschaut, ziehe ich ganz schnell ein paar der Schreiben heraus und schiebe sie unauffällig in meine Handtasche. Doch der Stapel wächst schneller, als ich ihn auf diese Weise abbauen kann.
    Die Zähne meiner Mutter sind jetzt übrigens wieder fixiert, doch lange werden sie auch diesmal nicht halten, meinte die Zahnärztin. Meine Mutter solle schon mal über ein neues Gebiss nachdenken, sagte sie.
    Am nächsten Tag hatte ich Mama wieder am Telefon. Sie sagte: »Über die Sache mit dem Gebiss habe ich heute den ganzen Tag nachgedacht, und ich bin zu einer Entscheidung gekommen: Ich will keines!«
    »Aha, sehr interessant. Und warum bitte nicht, wenn ich fragen darf?«
    »Weißt du, ich habe von Fällen gehört, wo die Patienten für Brücken und Gebisse Geld zahlen müssen! Stell dir vor!«
    »Das kann ich mir sogar ziemlich gut vorstellen! Sowohl du als auch ich haben schon oft Zuzahlungen für Brücken oder Kronen leisten müssen, und zwar nicht zu knapp, aber das hast du vielleicht gerade nicht mehr so präsent.«
    »Und was passiert, wenn ich plötzlich zweitausend Euro bezahlen soll?«, fragte sie panisch.
    »Dann zahlst du das eben!«, antwortete ich.
    »Aber ich habe das Geld nicht!« (noch größere Panik).
    »Doch, hast du!« (Ich kenne ja ihren Kontostand.) »Oder willst du ganz ohne Zähne herumlaufen …«
    »Ohne Zähne!« (Maximale Panik.) »Ich würde NIEMALS ohne Zähne herumlaufen!!!«
    »Wenn du das nicht willst, dann musst du eben zahlen. Aber es ist ja noch gar nicht raus, dass eine eventuelle Zuzahlung so hoch ausfällt. Vielleicht musst du gar nicht zweitausend Euro berappen! Vielleicht ist es viel weniger Geld.«
    »Oder aber viel mehr. Oh mein Gott! Aber vielleicht bin ich ja bis dahin längst tot!«, sagte sie.
    »Vielleicht«, antwortete ich. »Aber falls du dich nicht noch schnell von einem Auto überfahren lässt, ist es sehr unwahrscheinlich. Deine Zähne halten in letzter Zeit doch immer nur ein paar Wochen, also wird das Gebiss recht bald fällig. Und du bist doch noch quietschfidel!«
    »Ach, meinst du vielleicht!«, sagte sie giftig, und ich konnte ihren Kugelblitzblick regelrecht bei mir einschlagen spüren – obwohl sie gar nicht leibhaftig, sondern am Telefon mit mir sprach.
    »Ja, das meine ich absolut: Quietschfidel und ein bisschen bockig wie immer!
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