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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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überhaupt hätten die Engländer auch die KZs erfunden, siehst du, das hast du nicht gewußt, und das hätte auch alles hingehauen, wenn da nicht die verdammten Itaker gewesen wären, feige Hunde alle miteinander. Und Herbert Wehner (auch ein Italiener? fragte ich mich) sei das größte Arschloch, das rumlaufe, der könne nämlich Russisch, weil der im »Kriech« in Moskau gewesen ist, der feige Hund, wie der Brandt, der Verbrecher, die sollte man sowieso »nach drüben« verfrachten, zu den Russen, wo sie hingehören, und überhaupt sind das auf jeden Fall Spione, und die Russen, da sollte ich mal drauf achten, die wollen »Kriech«, das sieht man denen an, achte mal auf den Breschnew, wie der guckt, oder der Gromyko, die wollen »Kriech«, so viel ist klar. Dann stand er auf, legte mir die Hand auf die Schulter, mahnte mich, darüber mal nachzudenken, zog eine Grimasse, knallte noch einen raus und ging wieder hinein.
    Diese Familienfeiern liefen immer gleich ab: Man traf sich am Nachmittag und trank Kaffee und aß Kuchen. Abends gab es Bier und Buletten und Kartoffelsalat mit harten Gurkenstückchen und viel Mayonnaise. Dann gab es Schnaps. Die Aschenbecher quollen langsam über, was zuerst niemanden störte, dann jedoch einer der anwesenden Tanten so unangenehm auffiel, daß sie überhastet danach griff und die Hälfte auf dem Tisch verteilte. Meist wurde dann versucht, den Dreck mit der Hand in den übervollen Ascher zurückzuschieben, wobei die Asche sich in die weiße, mit selbstgemachten Stickereien aufgewertete Tischdecke rieb. Alte Männer saßen mit durchgedrückten Rücken auf Stühlen mit hohen Lehnen, die Bauchhosen bis unter die Brustwarzen gezogen, oder sie saßen in tiefen Sesseln, aus denen sie ohne Hilfe ihrer Frauen nicht mehr hochkamen. In der Hand hielten sie billige Zigarren, und ihre Nacken waren ausrasiert. Über ihren Köpfen hingen in schlechten Kopien die Motive häusliche Szene, der Boden in Schachbrettmuster. Ich erinnere mich an Speichelbläschen, die in Mundwinkeln platzten und an gelbe Zähne, die zu vorgerückter Stunde auch schon mal herausgenommen wurden, was die Münder zu schwarzen Löchern mitten im Zimmer machte. Manchmal war ein Akkordeon dabei, und um Mitternacht wurde Westerwald gesungen, über dessen Wipfeln der Wind so kalt pfiff. Oder auch vom treuen Husar, der sein Mädel ein ganzes Jahr geliebt habe und noch mehr. Die schwarzen
    Löcher gingen lachend auf und zu, und die Speichelbläschen platzten nicht mehr, sondern sammelten sich und liefen schließlich in dünnen Rinnsalen Richtung Kinn.
    Die Frauen sangen auch, in den Händen ein altes Taschentuch, um sich die Tränen abwischen zu können, wenn es sie zu sehr rührte. Zwischendurch standen die Männer auf und gingen aufs Klo. Sie trafen die Schüssel nicht und pißten daneben und gingen zurück, ohne sich die Hände zu waschen. Und am Ende roch das ganze Haus nach kaltem Essen, kaltem Rauch und gerülpstem Schnaps.
    Einmal war mein Vater nicht da, und ich ging nur mit meiner Mutter zum neunzigsten Geburtstag einer Großtante. Sie waren alle wieder da. Es wurde das volle Programm geboten, inklusive Akkordeon und einer Menge Singerei, und mir fiel auf, daß meine Mutter sehr fröhlich war. Wenn mein Vater dabei war, saß sie meist einfach da und unterhielt sich mit irgendeiner Tante. An diesem einen Abend aber wurde sie immer mehr zum Mittelpunkt des Festes, sang alle Strophen aus vollem Halse und tanzte sogar mit Onkel Bertram, der seine Hand auf den Hintern meiner Mutter legte und die Zigarette beim Tanzen nicht aus dem Mund nahm. Wenn meine Mutter mal ein paar Minuten nicht tanzte, dann trank sie. Einige Schnäpse und auch Bier aus der Flasche. Einige Tanten machten komische Gesichter. Auch Onkel Bertram machte ein komisches Gesicht, aber er feuerte meine Mutter an, nur ja nicht nachzulassen und faßte sie immer wieder an, meist am Hintern. Und irgendwann war der Akkordeonspieler müde und wollte gehen, aber meine Mutter forderte lautstark Zugaben, und der Mann spielte weiter und tanzte und sang, aber jetzt hatte sie Mühe, die Tonart und den Rhythmus zu halten. Nach und nach verabschiedete sich die Festgemeinde, bis nur noch meine Mutter, die Großtante, die Geburtstag hatte und ein erschöpfter Akkordeonspieler, der sein Instrument schon nicht mehr halten konnte, zurückblieben. Der Mann sank in der Ecke zusammen, und das Akkordeon gab einen letzten klagenden Ton von sich und war dann endlich still.
    Dann liefen
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