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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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blieb mehr als die Hälfte in den Zähnen hängen. Lecker, aber aufwendig. Oder sollte es doch Hanuta sein, wo man meiner Ansicht nach zuerst eine der beiden Waffelschichten von der Schokoladenfüllung abnagen mußte, um den vollen Genuß zu haben? Oder doch ein Raider, wo in dem goldenen Papier zwei Riegel steckten, die aussahen wie Zigarren? Und dann tauchten eines Tages diese Schokoladeneier mit den Bausätzen im Bauch an der Supermarktkasse auf und machten die Entscheidung noch schwerer. Es war zum Verzweifeln. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Meistens gelang es mir, alles auf zwei Alternativen einzugrenzen, aber das machte es nicht leichter. Im Gegenteil. Um nicht überhastet für eines, und wenn ich das dann hatte, wurde mir plötzlich klar, daß ich doch lieber das andere hätte haben wollen. Viel lieber. Es wurde eine existentielle Frage. Aber das wollte meine Mutter nicht begreifen. Sie war nur genervt, weil ich solche Zicken machte. »Herrgott, manchmal möchte ich wirklich wissen, was du eigentlich willst.« Nicht nur du, Mama, nicht nur du.   
     
    Am Wochenende nach der Schülersprecherwahl hatte Onkel Bertram Geburtstag, und natürlich mußten wir hin. Das hatte ich nicht zu entscheiden, obwohl mir das wiederum sehr leicht gefallen wäre. Ich konnte den Onkel nicht ausstehen, aber das konnte niemand.
    Onkel Bertram war eigentlich mein Großonkel, der Bruder meines Großvaters väterlicherseits. Er war ein Ekel, aber man munkelte, er habe Geld, also waren alle nett zu ihm und ließen sich seine Unverschämtheiten gefallen. Er war bekannt für seine Fürze. Er furzte in aller Öffentlichkeit, ohne sich zu schämen. Er rülpste auch gern. Wenn bei den Familienfeiern das Abendessen gereicht wurde, hing ihm immer irgend etwas aus dem Mundwinkel heraus. Mal ein Stück Fleisch, mal ein bißchen Salat. Dann wieder lief ihm Soße das Kinn hinunter. Seelenruhig ließ er es laufen und schickte noch einen Rülpser hinterher. Onkel Bertram rauchte Lord Extra. Und er trank Export, in rauhen Mengen, ohne betrunken zu werden. Wenn er trank, konnte er noch mehr furzen.
    Seine erste Frau, meine Großtante, war schon tot. Fast fünfzig Jahre lang hatte sie den Onkel ertragen, hatte ihm das Bier gebracht und die Zigaretten angezündet, wenn er es verlangte, und hatte sich beschimpfen lassen, wenn ihm irgend etwas nicht paßte, oder einfach nur, weil es ihm Spaß machte. Die Ehe war kinderlos geblieben.
    Als meine Großtante starb, war ich vielleicht sechs Jahre aIt. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß sie jemals etwas gesagt hätte, außer vielleicht »Guten Tag!« und »Auf Wiedersehen!« oder »Hat es geschmeckt?« oder »Laßt euch bald mal wieder sehen!« Einmal gingen meine Eltern und ich zum Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag hin, und als wir klingelten, machte Herr Figge, der alte Nazi von nebenan, die Tür auf und führte uns ins Wohnzimmer, und da kniete meine Großtante vor Onkel Bertram und wusch ihm in einer Plastikschüssel die Füße. Ich sah nur ihre zum Dutt geknüpften Haare und ihren geblümten Kittel. Sie hatte zwei Kittel. Einer war blau gemustert, der andere braun. Ich glaube, sie hatte nichts anderes anzuziehen, ich habe sie jedenfalls nie in etwas anderem gesehen. Sie wusch ihm die Füße mit Wasser und Seife, und Onkel Bertram grinste breit, als wir hereinkamen. Dann sah er Herrn Figge an und grinste noch breiter. Herr Figge war beeindruckt.
    Nur ein halbes Jahr nach dem Tod meiner Großtante, hatte Onkel Bertram wieder eine gefunden, die ihm die Unterhosen wusch und den Fernseher an- und ausschaltete. Sie hieß Frau Fuchs und war fast so dick wie meine Mutter. Sie war etwas gesprächiger, aber das ließ mit den Jahren nach. Ich fragte mich, wie er auch diese Frau dazu brachte, das alles für ihn zu tun. Wahrscheinlich war auch hier Geld im Spiel.
    Onkel Bertram erklärte jedem die Welt. Als ich seiner Meinung nach alt genug war, die Wahrheit zu ertragen, nahm er mich bei einer Familienfeier beiseite, legte mir den Arm um die Schulter, nahm mich mit auf den Balkon und drückte mich in einen Stuhl, ließ sich selbst in den daneben fallen und kam ganz dicht an mich heran, so dicht, daß ich riechen konnte, was er gegessen hatte. Bevor er loslegte, kniff er noch die Augen zusammen, schnitt eine schmerzhafte Grimasse, hob eine Arschbacke und ließ einen seiner donnernden Fürze fahren. Und dann erklärte er mir, wie das wirklich war mit Adolf und den Autobahnen und dem »Kriech«, und
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