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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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und auch da waren sehr viele Leute unterwegs. Geschäftsleute schlenderten betont lässig mit ihren Trolleys und ihren Aktenkoffern zu den Türen. Sie trug ein dunkles Kostüm und ein graues Halstuch. Sie hatte ihre Haare, die sie in letzter Zeit hatte wachsen lassen, hochgesteckt. Sie sah schön aus und ein bißchen streng. Ich traute mich kaum an sie heran. Ich mußte ziemlich abgerissen aussehen, mal ganz abgesehen davon, daß ich wahrscheinlich roch wie etwas, das lange im Maul einer toten Kuh gelegen hat.
    Wir sagten beide hallo und wußten nicht, was wir dann sagen sollten. Ganz automatisch gingen wir Richtung Ausgang. Am Telefon hatte sie darauf bestanden, selbst zu kommen, um mich abzuholen. Eine Gefangenen-Überführung wie in einem amerikanischen Film? Midnight Run? War sie Robert de Niro und ich Charles Grodin? Ich war zwar ein weinerlicher Schwätzer, aber eigentlich doch ziemlich clever. Ich hatte Tina kennengelernt, ganz blöd konnte ich also nicht sein. 
     
    Ich war mit der U-Bahn zum Bahnhof Zoo gefahren, ohne zu bezahlen. Ich hatte kein Geld mehr, aber es wäre mir auch egal gewesen, wenn sie mich erwischt hätten. Ich war viel zu früh da gewesen und noch ein wenig herumgelaufen. Gehen war immer noch besser als Stehen. Hätte ich mich hingesetzt, wäre ich sofort eingeschlafen. Wahrscheinlich hätte mich dann eine Polizeistreife aufgegriffen und mich in eine Ausnüchterungszelle geworfen. Ich hätte mich nicht gewehrt.
    Vor dem Bahnhof hatte mich einer angequatscht. Lange, verfilzte Haare, ein schmutziges, ehemals nobles Club-Jackett mit einem Wappen auf der Brust, darunter ein Kapuzenpulli, der zu seinen besten Zeiten mal grau gewesen war, an den Beinen eine alte Militärhose. Der Mann streckte mir eine Hand entgegen, und seine Fingernägel sahen aus, als habe er die Hand kurz zuvor noch in eine Schale mit Teer gehalten. »Sie baden gerade Ihre Hände darin!« – »Danke, Tilly.«
    Der Mann konnte so traurig gucken, als sei er mein verschollener Halbbruder aus der ersten Ehe meines Vaters. Er wollte Geld. Ich sagte ihm, ich hätte selbst keines. Er sah mich an, als wolle er mir eine reinhauen. Er betrachtete mich von oben bis unten. Dann grinste er, griff in seine Hosentasche und drückte mir ein Zweimarkstück in die Hand. Dann zwinkerte er mir zu und sagte: »Aber sag der Mutter nichts!« Dann ging er weg. Ich ging zu McDonald’s und trank einen Kaffee. 
     
    In der Nähe des Bahnhofs war das Palace Hotel, da gingen wir hin. Tina bestellte ein Doppelzimmer. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock. Im Fahrstuhl lief leise nichtssagende Musik.
    Es war ein großzügiges Zimmer mit einem breiten Bett, einem Sofa und einem Sessel. Tina hatte nur einen kleinen Koffer dabei. Sie sagte, vielleicht solle ich mich erst mal hinlegen. Ich sagte, es sei wohl besser, wenn ich erst mal dusche.
    Ich stellte das Wasser auf lauwarm und ließ es bestimmt eine Viertelstunde einfach an mir herunterlaufen. Dann seifte ich mich ein, wusch mir die Haare und die Achselhöhlen und die Hände und die Arme und die Beine und die Füße und den Schwanz und den Sack und auch den Hintern. Als ich aus der Dusche kam, lag neben dem Waschbecken mein Naßrasierer. Daneben standen mein Rasierschaum und mein After Shave und mein Eau de Toilette, von Davidoff. Ich rasierte mich und legte Eau de Toilette auf. Als ich aus dem Bad kam, saß Tina auf dem Sofa und blätterte in einer Zeitschrift. Sie sah auf und lächelte.
    Sie sagte: »Das erinnert mich schon mehr an den Typen, der bei mir wohnt.«
    Ich lächelte zurück.
    »Du willst dich wahrscheinlich erst mal ein bißchen hinlegen«, sagte sie.
    »Nicht lange«, sagte ich, »nur ein Stündchen oder so.« Nach der Dusche war ich einigermaßen fit.
    »Ist schon gut«, sagte sie, »ich gehe ein bißchen über den Kudamm bummeln.«
    »Gut«, sagte ich.
    Sie stand auf, kam zu mir und küßte mich auf die Wange. Sie roch gut, wie immer. Ich zog den Bademantel aus und legte mich ins Bett. An der Tür drehte sich Tina noch einmal um und winkte mir zu und lächelte.
    Ich hatte sie gebeten, mir meinen tragbaren CD-Player mitzubringen und ein paar Platten. Ich legte mich aufs Bett und sah an die Decke und hörte Dylan. Jazz und Klassik waren okay, aber das hier war the real thing. Das war ich, bevor es losging. Ich hörte Dylans »Desire«. Als die Platte herauskam, war ich neun. Jetzt war ich dreiunddreißig. Ich sollte eigentlich nicht mehr in dem Alter sein, wo man Angst hat
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