Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
Vom Netzwerk:
1
    Im September 1998 stürzte ein Mann frühmorgens vornüber aus einer im Souterrain gelegenen Kreuzberger Kneipe in eine Pfütze brackigen Regenwassers und fühlte sich nun bereit für einen abschließenden Döner. Sein Leben als verantwortungsloses, bindungsunfähiges, triebhaftes Arschloch war definitiv an einem Tiefpunkt angekommen. Gegenüber war eine Plakatwand, auf der stand: »Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen!« Der Mann war knapp über dreißig, ungewaschen und unrasiert und hatte seit einigen Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Fast schien es, als wolle er liegenbleiben, da in der Pfütze. Einfach liegenbleiben, ging ihm durch den Kopf. Aber der große breite Wirt mit der hohen Stimme und die fünf stummen Biker würden sicher etwas dagegen haben. Und ob das häßliche, magere Mädchen, das seit Stunden im Schneidersitz in ein Mineralwasser hineinmeditiert hatte, sich für ihn verwenden würde, war mehr als fraglich. Aus der Kneipe kam chinesische Musik.
    Der Mann schmeckte Regenwasser. Er fror. Aber das alles dauerte nur ein paar Sekunden, dann stand der Mann auf und ging in die nächste Telefonzelle. Man sah ihn telefonieren, den Kopf gegen den Apparat gelehnt. Nach ein paar Minuten kam er wieder heraus. Er ging ein paar Schritte und blieb vor einem türkischen Imbiß stehen. Aus dem Döner würde nichts werden. Der Mann hatte kein Geld mehr. Er konnte jetzt nur noch warten.
    Dieser Mann, der mit leerem Magen, Kopfschmerzen und einem tauben Gefühl in den Knochen vor diesem Imbiß stand, war ich. Die ganze Geschichte hatte an dem Tag angefangen, als meine Eltern sich einen Farbfernseher kauften.
     
    Es hatte bis zum Spätsommer 1982 gedauert, bis mein Vater uralten Schwarzweißfernseher auf den Müll warf und ein neues Gerät anschaffte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es nicht unbedingt ein Farbfernseher sein müssen, wahrscheinlich war ihm ohnehin schon lange alles zu bunt, aber der Händler hatte einfach keine Schwarzweißgeräte da, und das war unser Glück. Der Apparat wurde geliefert, als die großen Ferien vorbei waren, aber das war Zufall.
    Mein Vater tat immer so, als interessiere Fernsehen ihn nicht, aber seine allabendliche »Tagesschau« ließ er sich nicht nehmen. Filme, Serien und Reportagen schien er immer nur widerwillig zu sehen, nach dem Motto: Na, wenn der Fernseher schon mal an ist…. Das hat er nie gesagt, aber man sollte das von ihm denken.
    Meine Mutter hat immer sehr gern ferngesehen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten wir schon längst einen »Buntfernseher« gehabt. Aber mein Vater meinte, dafür sei kein Geld da. Meine Mutter schüttelte dann nur den Kopf und seufzte. Sie mochte »Was bin ich?«, und wenn Robert Lembke den Gong schlug, machte sie die Augen zu, denn dann wurden die Berufe der Leute eingeblendet, und sie machte die Augen erst wieder auf, wenn der Gong zum zweiten Mal ertönte, und dann versuchte sie mitzuraten. Ich glaube, meinem Vater ging das ziemlich auf die Nerven. Aber er sagte nichts, sondern atmete nur ein paarmal hörbar aus oder kratzte sich etwas zu oft am Fuß.
    Meine Eltern hatten eine graue Sitzgarnitur. Meine Mutter saß auf dem Zweisitzer und mein Vater in einem der beiden Sessel. Seine Füße legte er auf den anderen Sessel, und der Dreisitzer blieb meistens leer. Meistens zog sich mein Vater die Socken aus, und dann sah man, daß er sich nicht so gern die Fußnägel schnitt.
    Ich war begeistert, daß wir endlich einen Farbfernseher hatten. Ich konnte mir ein Leben ohne Fernsehen schon gar nicht mehr vorstellen, und vor allem konnte ich mich an ein Leben ohne Fernseher gar nicht mehr erinnern. Der Fernseher war immer dagewesen.
    Meine frühesten Fernseherinnerungen haben alle mit amerikanischen Serien zu tun. Da war ein Mann, der im Vorspann durch eine Menge Türen ging und schließlich in einer Telefonzelle stand, die aber in Wirklichkeit ein Fahrstuhl war, der abwärts fuhr. Dann gab es eine Serie, die hieß »Renn, Buddy, renn!« Auch da kann ich mich nur noch an den Vorspann erinnern, wo ein Mann, natürlich, die ganze Zeit rennt, durch Straßen und über Brücken, wahrscheinlich in New York. Das größte aber war »Bezaubernde Jeannie«. Ich weiß nicht warum. Das einladende Dekollete von Barbara Eden hat mir erst Jahre später etwas gesagt. Aber ich fand es toll, wenn sie vor eben diesem Dekollete ihre linke Hand auf ihre rechte legte, die Ellenbogen abspreizte und dann einmal kurz nickte. Dann war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher