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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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vor dem Plattenspieler stehen. Er stand einfach da und sah der Platte beim Drehen zu, bis sie zu Ende gespielt hatte. Dann nahm er die Platte vorsichtig vom Teller und verstaute sie wieder in einem der Alben. Er ging an den Wänden entlang und fuhr mit den Fingerkuppen über die Rücken der Alben, griff schließlich eines heraus, blätterte darin herum, nahm eine neue Platte heraus, legte sie auf und stand wieder davor und sah ihr beim Drehen zu. Das tat er noch einige Male. Und dann, ich glaube, es war bei der sechsten oder siebten Platte, kam plötzlich Bewegung in meinen Vater. Zunächst war gar nichts zu bemerken, dann jedoch sah ich, wie sein Oberkörper sich bewegte, vor und zurück und auch zu den Seiten. Mein Vater tanzte. Er tat so, als halte er jemanden im Arm, und drehte sich. Nach etwa einer halben Stunde wurde mir langweilig, und ich ging wieder nach oben.
    Meine Eltern faßten sich nie an. Manchmal, im Winter, hängte sich meine Mutter bei meinem Vater ein, aber das war kein echtes Berühren, da berührten sich nur die Mäntel.
    Ich konnte mir nicht vorstellen, daß meine Eltern mich auf die übliche Art und Weise bekommen hatten. Die Vorstellung, meine Eltern hätten Sex gehabt, um mich zu bekommen, war absurd. Wo sollte mein Vater in den Mutterberg eindringen? Wie konnte er sicher sein, daß es die richtige Stelle war, wenn sein Ding irgendwo steckenblieb, wo es warm und feucht war? Das konnte genausogut die Achselhöhle meiner Mutter sein oder eine Bauchfalte. Und wenn doch, wie hatten sie sich in Stimmung gebracht? Hatte meine Mutter die Schiwago-Melodie gepfiffen? Hatte mein Vater gesungen: »Heißer Sand und ein verlorenes Land und ein Leben in Gefahr«? Hatte er sich ein dünnes Bärtchen auf die Oberlippe geklebt, um auszusehen wie Omar Sharif? Vielleicht war mein Vater gar nicht mein Vater. Vielleicht war meine Mutter gar nicht meine Mutter. Ich sah auch keinem von beiden ähnlich. Vielleicht hatten sie mich adoptiert. Oder gefunden. Zwei Wochen nach dem Ende der Ferien sollte der neue Schülersprecher gewählt werden. Der alte hatte Abitur gemacht. Britta kandidierte. Eine Woche lang verteilte sie vor der Schule Flugblätter und zog sich damit den Zorn des alten Schmalendorf zu, der mindestens seit Kaiser Wilhelm Direktor unserer Schule war. Schmalendorf war noch im Krieg gewesen, und er mochte keine Flugblätter.
    Am Wahltag regnete es. Wir wurden in die Aula getrieben, wo sich die Kandidaten vorstellen sollten. Genauer gesagt stellten sich zwei Gremien zur Wahl, bestehend aus je vier Leuten, an deren Spitze der eigentliche Kandidat beziehungsweise die Kandidatin stand. Die beiden Gruppen saßen auf der Bühne an je einem Schultisch, auf dem kleine grüne Appolinaris-Flaschen standen. Mücke und ich saßen in der letzten Reihe. Britta war noch nicht da. Die anderen versuchten, so zu tun, als seien sie nicht nervös. An dem einen Tisch saßen nur drei Leute, das mußte Brittas Gremium sein. Zwei Jungs, ein Mädchen. Einen kannte ich aus der Oberstufe: groß, sehr dünn, dichtes, schwarzes Haar, das ihm auf dem Kopf hockte wie ein Helm. Niemand hatte ihn je in etwas anderem als seinem Jeansanzug gesehen. Auf der rechten Brusttasche der Jacke stand »Public Enemy No. l« geschrieben, mit Filzstift.
    Neben ihm saß ein höchstens elfjähriges Mädchen, das ich noch nie gesehen hatte; sie trug ein hellblaues, hochgeschlossenes Kleid und hatte ihre langen, blonden Zöpfe zu Affenschaukeln geflochten, die neben ihrem Kopf hin und her baumelten. Der Dritte war ein stadtbekanntes Tennis-As aus einer unserer Parallelklassen, ein hübscher Bengel, der Lacoste-Polohemden und teure Tennisschuhe trug. Die Schuhe waren ihm von einer Ausrüsterfirma gestellt worden, die in ihm die Kroße deutsche Tennishoffnung witterte. Man munkelte, alle möglichen Mädchen seien hinter ihm her, sogar einige aus der Oberstufe.
    Am anderen Tisch saßen vier Jungs aus der Oberstufe. Alle hatten kurze Haare. Einer von ihnen las die FAZ. Das war der eigentliche Kandidat. Er trug geflochtene italienische Schuhe, eine helle Stoffhose mit Bundfalte und Bügelkante sowie ein himmelblaues Hemd mit weißem Kragen.
    »So stelle ich mir den Typen vor, der den Drachen erledigt hat«, sagte Mücke.
    »Siegfried?«
    »Genau den.«
    Alle warteten auf Britta. Am Rande der Bühne stand Schmalendorf, der einleitende Worte sprechen wollte und über die Verspätung sichtlich verärgert war. Schließlich riß ihm der Geduldsfaden, er ließ das
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