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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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Dortmunder Westfalen-Stadion gewesen. Ich trug Blue Jeans und ein weißes Hemd mit Börtchen und eine schwarze Weste, so wie Art Garfunkel auf der Platte. Ich mochte am liebsten »America«, weil ich den Begriff »New Jersey Turnpike« so gut fand. Ich hatte eine Kompaktanlage von Schneider, Plattenspieler und Kassettenrecorder. Die hatte ich mir von dem Geld gekauft, das ich zur Konfirmation bekommen hatte.
    Ich hatte schon einiges an Platten. Vor allem Beatles und Simon and Garfunkel und ein bißchen Bob Dylan. In der Schule waren wir uns weitgehend einig, daß heutige Musik nicht gut war. Außer vielleicht Bap, aber das hatte politische Gründe. Es war nicht so schwer, Platten zu kaufen. Irgendwie war immer etwas Geld übrig. Meistens mußte ich nur eine oder zwei Wochen einigermaßen mein Geld zusammenhalten, dann konnte ich mir wieder was leisten. Zu Weihnachten und zum Geburtstag ließ ich mir dann noch welche schenken.
    Die letzte Platte von Dylan hieß »Shot of Love«, und die hatte uns nicht begeistert. Alles hörte sich an wie selbst gemacht, wie in der Garage aufgenommen. Man war allgemein der Ansicht, die letzte gute Platte sei »Live at Budokan« gewesen. Die mußte man haben. Aber das war ein Doppelalbum und entsprechend teuer. Vor dieser Investition hatte ich bisher zurückgeschreckt.
    Als ich am nächsten Morgen aufstand, erwischte ich meine Mutter dabei, wie sie den Fernseher einschaltete. Sie starrte ein paar Sekunden auf das Testbild, dann bemerkte sie mich, schaltete den Apparat aus und legte die Fernbedienung weg.
     
    Mein Vater war Stationsvorsteher bei der Deutschen Bundesbahn. Er war groß und still. Er hatte lange Arme, die manchmal nicht zu ihm zu gehören schienen, so sehr schlackerten sie neben seinem Körper her. Meine Mutter hatte mal im Einzelhandel gearbeitet, in einem Kaufhaus, in der Spielwarenabteilung. Dann hatte das Kaufhaus geschlossen, und ein paar Monate lang hatte sie Schuhe verkauft. Dann war ich gekommen. Seitdem war sie Hausfrau. Und mein Vater hatte Karriere machen dürfen. Als Stationsvorsteher. Manchmal fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht auch hätte Karriere machen wollen. Sie hätte schon längst Abteilungsleiterin sein können für Holzeisenbahnen und Brummkreisel.
    Meine Mutter war etwas kleiner als mein Vater und unheimlich dick. Im Sommer trug sie ärmellose Blusen, aus denen ihre Arme hervorquollen wie Wurst, die nicht in den Darm paßte. Am schlimmsten war ihr riesiger Busen. Als kleines Kind, als sie mich noch manchmal umarmte und an sich drückte, hatte ich oft Angst, er würde eines Tages abfallen und mich unter sich begraben.
    Außerdem sang meine Mutter. Schlecht, aber gern. Als meine Ohren noch kaum über die Tischplatte reichten, sang meine Mutter mir gern die Schiwago-Melodie vor, in der Version von Karel Gott: »Weißt du, wohin…« Dazu trug sie ein rotes Kleid mit schwarzen, knubbeligen Knöpfen und erzählte sich selbst von den Weiten der russischen Taiga und der tiefen Liebe, die ein Mann wie Omar Sharif einer Frau schenken konnte.
    Auch mein Vater hatte mit Musik zu tun. Und zwar im Keller.
    Der Keller: Wände und Decken hatte mein Vater mit Holz verkleidet, einen Teppich hatte er gelegt und eine Heizung installiert, um dort seinen Schatz zu lagern, eine riesige Schallplattensammlung, Hunderte von kunstledernen Alben, die in durchsichtigen Plastikfolien je fünfzig kleine Vinylscheiben beherbergten. Vom Boden bis zur Decke reichten die prall gefüllten Regale, und mein Vater verbrachte ungezählte Wochenenden damit, immer wieder neue Ordnungskriterien auszuknobeln. Manchmal ging er auch einfach nur am Regal entlang und strich mit den Fingerkuppen über die Rücken der Alben oder nahm eine Platte heraus und überprüfte im fahlen Licht der Kellerfunzel ihren Zustand. Mitten im Keller stand auf einem halbhohen Tisch ein Plattenspieler aus den fünfziger Jahren, der erste, den sich mein Vater von seinem eigenen Geld gekauft hatte, ein Koffergerät mit einem unförmigen Arm, mit einer dicken Nadel am Ende.
    Soviel ich weiß, ist meine Mutter nie in diesem Keller gewesen. Mich selbst hatte mein Vater eines Tages mit nach unten genommen, nur um mir klarzumachen, daß ich dort nichts anrühren durfte. Einmal jedoch bin ich meinem Vater heimlich gefolgt, habe an der Kellertreppe gewartet, bis er eine Platte aufgelegt hatte, und mich dann näher geschlichen. Durch schmale Schlitze in der aus Holzlatten zusammengefügten Tür sah ich meinen Vater
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