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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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Saallicht herunter- und das Bühnenlicht hochfahren. Als er gerade anfangen wollte zu reden, kam Britta durch den Zuschauerraum, sprang auf die Bühne und setzte sich auf ihren Platz. Sie trug Jeans und Turnschuhe, ein rotes T-Shirt mit V-Ausschnitt und darüber ein offenes Cordhemd. Ihre Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
    Schmalendorf sagte etwas über das Privileg, wählen zu dürfen, und erklärte den Wahlvorgang: Wir sollten uns anhören, was die beiden Gremien zu sagen hatten, konnten dann Fragen stellen und sollten dann auf dem Zettel, den wir am Eingang erhalten hatten, entweder ein Kreuzchen bei Gremium A oder eben bei Gremium B machen. Britta war A. Deshalb durfte sie anfangen. Schmalendorf reichte ihr das Mikro.
    Britta gab das Mikro weiter an Staatsfeind Nummer eins, der eine kurze Einführung gab, wieso und warum sich dieses Gremium in genau dieser Zusammensetzung zur Wahl stelle: gleichmäßige Besetzung mit Männern und Frauen, die aus der Unter-, Mittel- und Oberstufe kamen, um auch allen Interessen mit gleicher Gewichtung entsprechen zu können. Während er redete, zog Britta erst ihr Cordhemd aus, zog dann das Gummi aus ihrem Pferdeschwanz und schüttelte ihr Haar. Sie bog den Oberkörper zurück, und alle sahen, daß sie keinen BH trug. Das Mädchen mit den Affenschaukeln und das Tennis-As stellten sich vor und sagten etwas, das ich nicht hörte. Dann gaben sie das Mikro an Britta weiter. Im Gegensatz zu ihren Vorrednern erhob sie sich, kam nach vorn, ging am Bühnenrand auf und ab und schien jeden von uns einzeln anzusehen.
    Sie sagte, daß gerade die Schule als neben der Familie primärer Ort der Sozialisation sich einklinken müsse in den gesellschaftlichen Diskurs und daß gerade in diesen Zeiten, da es um eminent wichtige Fragen des Überlebens der menschlichen Rasse auf diesem Planeten gehe, die Debatten nicht vor den Klassenzimmern haltmachen dürften. Die Menschheit sei heute in der Lage, sich hundertfach selbst zu zerstören, und der westlichen Welt falle nichts Besseres ein, als im Profitinteresse des militärisch-industriellen Komplexes unvermindert an der Rüstungsspirale zu drehen, das legitime Selbstbestimmungsrecht der Völker beispielsweise in Mittelamerika mit Füßen zu treten und über die Führbarkeit eines thermonuklearen Krieges zu spekulieren, wobei der Verlust Europas und die Verseuchung der Atmosphäre billigend in Kauf genommen würden, anstatt den ersten Schritt in eine atomwaffenfreie Welt zu tun und auf die Stationierung der Pershing II und Cruise-Missiles zu verzichten. In der ersten Reihe meldete sich ein Fünftkläßler und fragte, was das bedeuten sollte.
    »Krieg ist Scheiße«, sagte Britta, »und dicke Männer verdienen daran.«
    Dann kam sie auf die Gefährdung unserer Umwelt zu sprechen, die Zerstörung der natürlichen Ressourcen durch eine seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rücksichtslos durchgeführte Industrialisierung, den Rückgang der Artenvielfalt, das Abholzen des Regenwalds, den sauren Regen und die Gefahren der sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie. Harrisburg sei erst der Anfang gewesen, vielleicht passiere das nächste dikke Ding gleich vor unserer Haustür, in Biblis oder Krümmel oder sonstwo. Und es sei in jedem Falle falsch, den Kopf in den ohnehin cadmiumhaltigen Sand zu stecken, jeder und jede müsse sich im Gegenteil darüber im klaren sein, daß nur das Individuum in der Lage sei, den Lauf der Welt zu verändern, weshalb sie uns alle zu größtmöglicher Eigeninitiative auffordern wolle. Im Falle ihrer Wahl werde sie Arbeitsgruppen einrichten, die sich all dieser Themen annehmen würden, die prüfen sollten, was hier, an unserer Schule, in unserem ganz konkreten Lebensumfeld getan werden könnte, um einen Beitrag zu leisten. Ferner werde sie dafür sorgen, daß mindestens zweimal pro Halbjahr eine Rocknacht in der Pausenhalle stattfinde, bei denen Bands von der Schule Gelegenheit erhalten sollten, erste Auftritte zu absolvieren. Das bisher vernachlässigte Schülercafé solle zu einem auch außerhalb der Unterrichtszeiten geöffneten Treffpunkt werden, in dem Folkmusikabende veranstaltet werden sollten, wo sich aber auch eine Schülerliteraturgruppe, zu deren Gründung sie hier nachdrücklich aufrufe, formieren solle. Zur Realisierung ihrer Pläne habe sie bereits beim Hausmeister und den Vertrauenslehrern vorgefühlt, und sie alle seien bereit, sich mehr oder weniger direkt dort einzubringen.
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