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Liegen lernen

Liegen lernen

Titel: Liegen lernen
Autoren: Frank Goosen
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wir quer durch die Stadt nach Hause, weil keine Busse mehr fuhren und ein Taxi zu teuer war. Meine Mutter nahm mich an der Hand und sagte, wie toll es sei, am Leben zu sein, und daß man das keinen Moment vergessen dürfe, egal, was man tue und wer man sei und wie weit man es gebracht habe, jeder Mann und jede Frau habe dankbar zu sein, einfach für die Tatsache, auf dieser Erde leben zu dürfen, und das dürfe ich nie vergessen, ich dürfe alles vergessen, ich dürfe sogar meine »arme, alte Mutter« vergessen, nicht aber, wie schön es sei, am Leben zu sein, und wie schön das Leben sein könne, wenn man nur wolle. Wir liefen mehr als eine Stunde, und meine Mutter hörte nicht auf zu reden.
    Im Hausflur begann sie wieder zu singen, ganz leise zunächst, als sie die Wohnungstür aufschloß schon lauter, und als die Tür hinter uns ins Schloß fiel und meine Mutter den schweren Schlüsselbund einfach auf den Boden fallen ließ, sang sie fast so laut wie noch vorhin auf der Feier, und dann begann sie wieder zu tanzen, zog sich den Mantel aus und drehte Pirouetten und warf den Mantel von sich und kickte ihre Schuhe in eine Ecke und tanzte auf ihren Strümpfen weiter, mit geschlossenen Augen sich immer weiter um die eigene Achse drehend, im vagen Walzertakt. Sie zog ihre Bluse aus dem Bund ihres Rockes, und ich hängte meine Jacke an die Garderobe im Flur, und meine Mutter warf ihre Bluse auf den Boden. Ihre riesigen Brüste kämpften gegen das riesige Mieder an. Meine Mutter tanzte ins Schlafzimmer, und durch die Tür sah ich kurz darauf ihren Rock, diesen braunen Rock mit dem Umfang eines Heizkessels, auf die Diele fliegen. Dann geschah eine Zeitlang nichts. Ich ging in mein Zimmer und zog mich aus. Und dann ging plötzlich das Licht aus, und ich drehte mich um und sah die Umrisse meiner Mutter, die im Gegenlicht der Dielenlampe viel größer aussah als normal. Sie sagte, in ganz hoher Tonlage und fast noch singend, ich solle mal herkommen, also kam ich mal her, und sie packte mich unter den Armen und hob mich hoch und drückte mich an sich, und da merkte ich, daß sie nichts anhatte. Sie drückte meinen Kopf zwischen ihre Brüste, wo er fast völlig verschwand. Es war sehr feucht, da zwischen ihren Brüsten, und es roch und schmeckte irgendwie nach… altem Blumenkohl, jedenfalls war es das, woran ich denken mußte, obwohl ich noch nie alten Blumenkohl gegessen hatte, schließlich kochte meine Mutter alles immer ganz frisch, aber trotzdem roch es nach Blumenkohl, da zwischen ihren Brüsten, diesen riesigen Dingern, aber eben nach Blumenkohl, der nicht mehr so ganz frisch war, eigentlich sogar schon verdorben, ja so riecht das hier, dachte ich. Ich konnte kaum atmen, da zwischen ihren Brüsten, und meine Mutter fragte, ob ich mich auch so sehr freue, am Leben zu sein, aber sie wollte wohl keine Antwort, denn sie setzte mich wieder ab und verschwand ins Badezimmer und ich verschwand in mein Bett und schlief gleich ein. 
     
    Also: Am Wochenende nach der Wahl hatte Onkel Bertram Geburtstag. Alles lief ab wie gehabt: nachmittags Kirsch- und Stachelbeertorte, abends Frikadellen und Kartoffelsalat mit beinharten Gurkenstückchen. In diesem Stadium begann Onkel Bertram meist, die Anwesenden in ernste Gespräche zu verwickeln. Es paßte ihm nicht, wie die meisten ihr Leben angingen. Der eine hatte sich zu hoch verschuldet, die andere war dem falschen Mann auf den Leim gegangen, der dritte erzog seine Kinder falsch, die vierte hatte den falschen Beruf ergriffen. Onkel Bertram gab konkrete Anweisungen, wie dies oder das abzustellen sei. Niemand widersprach. Es mußte wirklich eine Menge Geld im Spiel sein.
    An diesem Sonntag wandte er sich mal wieder mir zu, zog mich in die Küche, wo Frau Fuchs saß und auf weitere Instruktionen wartete. Mit einer kurzen Kopfbewegung schickte der Onkel sie hinaus. Dann setzte er sich an den Küchentisch und wies mir den Platz gleich neben sich zu. Er nahm zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, stellte sie auf den Tisch und fragte, ob ich mich damit auskenne. Ein wenig, sagte ich. Gut, sagte der Onkel, ich sei jetzt in dem Alter, wo ich ab und an einen Schluck vertragen könne. Er öffnete die Flaschen und stieß mit mir an. Er nahm einen tiefen Schluck. Ein kleines bißchen Bier sammelte sich in seinem Mundwinkel. Er setzte die Flasche wieder ab und fuhr sich mit dem Handrücken durchs Gesicht. Dann rülpste er und sagte, er mache sich Sorgen um die deutsche Jugend. Da er auf eine
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