Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst
Autoren: Howard Jacobson
Vom Netzwerk:
Beerdigung hatte Marisa über einen Freund von Marius erfahren, von dessen Existenz sie nichts wusste, er jedoch von ihrer. Marius, hatte er ihr erklärt, habe sie sehr gerngehabt. Sie sei sein zweites, und, ergänzte er, sein letztes großes Abenteuer gewesen. Daraufhin hatte Marisa mich angerufen.
    Â»O Gott!«, sagte ich.
    Â»Ja.«
    Â»Mein Gott!«
    Mein Gott – weil er gestorben war, aber auch wegen allem anderen. Mein Gott – weil er auf diese Weise gestorben war; weil er Wanderer geworden war; weil sein Herz nie ganz gesund gewesen war. Mein Gott – weil er auf demselben Friedhof bestattet werden sollte, auf dem auch Elspeth und ihr Mann lagen. Wessen Idee das wohl gewesen war?, fragte ich mich. Hatte Marius ein Testament hinterlassen, mit dem ausdrücklichen Wunsch, in ihrer Nähe beerdigt zu werden? Ich hätte viele Fragen gehabt an Marisa, aber musste akzeptieren, dass ich kein Recht hatte, Fragen zu stellen. So wie ich gleichfalls akzeptierte, dass ich kein Recht hatte, sie zu fragen, wie sehr die Nachricht sie mitgenommen habe.
    Wir schwiegen uns am Telefon an. »Du brauchst nicht zu kommen«, sagte sie schließlich. »Und irgendwie finde ich auch, dass du da nicht hingehörst. Andererseits …«
    Â»Andererseits – was …?«
    Â»Es zieht einen Schlussstrich unter ein gemeinsames Kapitel.«
    Â»Ich dachte, wir hätten schon einen Schlussstrich unter ein gemeinsames Kapitel gezogen.«
    Â»Dann komm nicht.«
    Â»Doch, ich komme.«
    Â»Gut. Nur noch eins, Felix.«
    Â»Ich soll nicht auf dich zugehen und dich ansprechen? Nicht so tun, als würde ich dich kennen? Keine Fragen stellen?«
    Â»Erschrick nicht über mein Aussehen.«
    Wir fuhren nicht zusammen nach Shropshire, obwohl ich den Weg zu dem Friedhof kannte, sie nicht. Aber ich warnte sie vor dem stürmischen Wrekin und riet ihr, Stiefel anzuziehen.
    Wenn ich sage, ich hielt mich erstaunlich tapfer, dann meinte ich damit nur meine Haltung am Grab. In dem Moment, als ich Marisa sah, bekam ich weiche Knie. Ich muss so leichenblass geworden sein wie der arme Marius.
    Marisa stand neben einem Mann, der der alte Freund sein musste, den Marius nie erwähnt hatte, ein Mann mit einer außergewöhnlich roten Gesichtsfarbe, seefahrerhaft. Wen Marius so alles gekannt hatte! Marisa winkte mir zu – eine zaghafte, zerbrechliche, zitternde Geste, die ich nicht verstand, fast wie das Wedeln eines Menschen, der Mücken verscheuchen will, bloß gab es hier überhaupt keine Mücken. Ich vermochte die Bedeutung nicht zu erschließen. Bleib da? Komm her? Wir treffen uns um vier hinter den Grabsteinen? Ich winkte zurück. Sie trug einen langen schwarzen Mantel, einen schwarzen Hut, einen schwarzen Schleier. Wer trägt heute noch schwarze Schleier auf Beerdigungen? Überhaupt schwarz. Wer trägt heute noch Schwarz? Hatte Elspeth einen schwarzen Schleier auf der Beerdigung ihres Mannes getragen? Ich glaube, nicht. Aber ich erinnere mich, dass sie wie eine entehrte Frau aus einem viktorianischen Roman ausgesehen hatte, die sich eines weit zurückliegenden und nie wiedergutzumachenden Fehltritts bewusst war. Und Marisa erschien mir noch mehr wie die Mätresse, der an so einem Ort des Aberglaubens alle irgendwie die Schuld an Marius’ Tod geben würden.
    Als alles vorbei war, die Erde in die Grube geworfen, die letzten Worte gesprochen, gingen wir zögernd aufeinander zu.
    Â»Verrückt, sich hier zu treffen«, sagte ich.
    Was hätte ich sonst sagen sollen? Wie schwer es für sie war, konnte ich sie schlecht fragen. Ich konnte nicht meine Stimme senken und sagen: »Es tut mir ja so leid, meine Liebe.«
    Â»Guck mich nicht an«, sagte sie.
    Ich schüttelte den Kopf und lachte. »Ich bitte dich, Marisa. Du bist schön. Du bist immer schön.«
    Aber ich wusste nicht, ob ich sie umarmen sollte. Ich hatte Angst, sie in die Arme zu schließen. Ich war unsicher. War noch alles an ihr dran? Wo hatte sie Schmerzen? Welche Stellen durfte ich nicht berühren? Welche Stellen durfte man überhaupt nicht berühren?
    Sie hob den Schleier und hielt mir ihre Lippen hin. Sie waren kalt im Regen. In ihrem Gesicht hatte sich etwas verändert, aber ich hätte nicht genau sagen können, was. Vielleicht war es ein bisschen schmaler geworden. Das Grau unter ihren Augen vielleicht ein bisschen deutlicher, als wäre die Tragödie, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher