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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst
Autoren: Howard Jacobson
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beobachtete Lionel. Ich konnte nicht erkennen, ob Dulcie ihr Fußkettchen angelegt hatte oder nicht, denn sie trug schwarze Boots zu ihrem langen Mantel, aber sie war jetzt tatsächlich eine scharfe Braut und nicht auf das Symbol angewiesen. Sie lachte und sah aus, als würde sie geliebt. Der Elektriker reichte ihr den Sherry, und sie hob das Glas, prostete keinem Besonderen zu, sondern der ganzen Welt.
    Der Elektriker musste sie angenehm überrascht haben, als sie ihn kennenlernte, denn er hatte etwas von einem Gentleman-Farmer an sich, rotbäckig, enthusiastisch, treu wie seine eigenen Hunde. Zwischen den Männern schienen keine Spannungen zu herrschen. Lionel und er waren wie zwei Freunde, die einen Picknickausflug machten, und Dulcie war ihr Picknick. Und außer als Erster an den Fresskorb gelassen zu werden, verlangte der Elektriker kein Privileg, das nicht auch Lionel zugestanden wurde. Wenn Lionel sich zurückhielt, dann war das Lionels Sache.
    Lionel umgab der milchige Schimmer der Wehrlosigkeit, den andere in der Anfangszeit, als ich noch nicht wusste, was Marisa trieb, auch an mir festgestellt hatten. Man erwartete es nicht bei so einem einfachen Menschen wie Lionel, aber er war wie verklärt, es gab kein anderes Wort dafür: Auf ihm lag ein Licht, als hätte ihn ein Engel heimgesucht. Aus einem Mann war ein Phantom geworden; befreit von seinem eigenen Willen, schwebte er um Dulcie und ihren Liebhaber herum und geleitete sie wie aus einer anderen Dimension. Ich sah ihnen zu, wie sie sich in der Menge der Musikfreunde verloren, wie selbstvergessen.
    Ich glaube nicht, dass sie mich bemerkt hatten. Und wenn doch, mussten sie glauben, sie hätten ein Gespenst gesehen.

Zwei Jahre gingen ins Land. In der Zeit sah ich Marisa kein einziges Mal. Gelegentlich rief sie mich an, aber jeder Anruf war schmerzlicher als der vorherige. Nicht zuletzt, weil wir merkten, wie wir uns an unsere Entfremdung gewöhnten. Eines Tages würden wir einfach akzeptieren, dass wir uns nie wieder in die Augen sehen würden.
    Â»Es ist lange her, dass ich dich gesehen habe«, sagte ich ihr einmal. »Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe? Dass ich dich gar nicht wiedererkennen würde, wenn wir uns zufällig auf der Straße begegnen würden.«
    Â»Würdest du auch nicht«, sagte sie.
    Â»Was? Dir auf der Straße begegnen?«
    Â»Mich wiedererkennen.«
    Zweimal noch musste sie ins Krankenhaus. Ich bat sie inständig, sie besuchen zu dürfen, und sie bat mich inständig, es nicht zu tun. Ihre Bitte war stärker und gerechtfertigter als meine.
    Â»Halbwegs o. k.«, lauteten beide Male ihre SMS . »Danke für die Blumen.«
    Meine Frage, wie es ihr wirklich ging, ließ sie jedes Mal unbeantwortet, weil sie fest davon überzeugt war, dass ich es nicht verkraften würde, wenn ich es wüsste.
    Â»Sag mir, sag mir …« Aber sie sagte mir nichts.
    Ich wusste nur, dass sie müde war. Müdigkeit kann man heraushören.
    Auf der Beerdigung regnete es. Ein trübsinniger, triefnasser Morgen, an dem man lieber tot als lebendig wäre. Bis heute weiß ich nicht, was leichter zu ertragen ist auf Beerdigungen, Sonne oder Regen. Für die Toten jedenfalls ist Hitze bei Weitem grausamer als Nässe, für die Trauergäste ist es egal, das heißt, je nachdem welche Hoffnungen auf ein neues Leben sie haben.
    Es waren wenige Leute auf der Beerdigung, und ich erkannte nur zwei unter ihnen. Ich selbst hielt mich eigentlich ganz tapfer, fand ich, für jemanden, der seit zwei Jahren wie hinter einem Tränenschleier lebte. Andererseits hatte Marius mir auch nie besonders nahegestanden.
    Er war beim Wandern in den Brecon Beacons zu Tode gekommen. Er hatte sich verlaufen und einen Herzinfarkt erlitten. So weit die offizielle Version. Anscheinend war sein Herz nie besonders robust gewesen, und Müdigkeit und Unterkühlung hatten ihm den Rest gegeben. Meiner Ansicht nach, die sich aber auf keine Beweise stützt, war er einfach losgewandert eines Tages, als es sich noch weniger als sonst lohnte weiterzuleben, mit dem festen Willen, in den Tod zu gehen. Welchen Tag er sich auch ausgesucht hatte, sicher bin ich mir nur über den Zeitpunkt, vier Uhr, das Licht des Tages noch nicht verbraucht, die Triebwerke des Abends gerade erst angelaufen. Die Stunde des Tages, an dem Männer davon träumen, an einem anderen Ort zu sein.
    Ort und Zeit der
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