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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst
Autoren: Howard Jacobson
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Prolog
    Vier Uhr war allen recht – der Ehefrau, dem Ehemann, dem Liebhaber.
    Vier Uhr: Wenn in der Stadt die Zeit auf ihrer Achse kippelt, der Tag noch nicht vorbei, die Triebwerke des Abends gerade erst angelaufen sind.
    Die Übergabestunde, wie Marius sie gerne nannte.
    Marius, der Zyniker. Marius, der die Ansicht vertrat, die natürliche Auslese strafe Gott, und die Menschheit strafe die natürliche Auslese Lügen. Marius, der keine großen Abenteuer mehr für sich erwartete, nicht einmal das letzte Abenteuer, das dem modernen Menschen noch blieb – die ekstatische, maßlose, ungehörige, alles verschlingende Liebe. Marius, der sich rühmte, über jede Enttäuschung oder Überraschung erhaben zu sein, da von keinem Menschen etwas zu erwarten war, am wenigsten von ihm selbst. Marius, der Mann mit dem gebrochenen Herzen.
    Er war fünfunddreißig – obwohl er älter aussah und älter klang –, beängstigend lang und hager, mit einem Gesicht wie verwüstet von einer Umweltkatastrophe: Weltuntergangsaugen, erodierte Wangen, der Mund ein raues, vertrocknetes Flussbett. Frauen fanden ihn attraktiv, wobei sie irrtümlich die eigene Labilität auf ihn übertrugen. Genau wie ich, obwohl ich in jeder Hinsicht das Gegenteil von ihm war. Ich war der Ekstatiker, den die Welt, dachte er, abgeschrieben hatte. Ich bin derjenige, den die Liebe verzehrt.
    Heute sind wir alle Fundamentalisten, ob Gläubige oder Atheisten. Inbrunst muss sein, wobei auch immer. Marius diente am Altar des Unglaubens, ich am Altar des Eros. Jedem seinen Gott.
    Glaube, heißt es, macht stark. Mein Glaube war von anderer Art. Ich glaubte, um schwach gemacht zu werden. In der Schwäche fand ich, Flagellant der Liebe, meine Einmaligkeit.
    Vier Uhr also. Die Übergabestunde. Ein Ausdruck von solcher Schamlosigkeit, dass es mir fast den Atem verschlug, mir auszumalen, was sich Marius darunter vorstellte.
    Wer hier was übergab, ist keine Frage, die sich in einem Satz beantworten lässt, wenn überhaupt. Die Schönheit eines obszönen Kontraktes liegt darin, dass jeder etwas davon hat.
    Die Ehefrau, der Liebhaber, der Ehemann.
    Ich war der Ehemann.

1 Marius
    Â»Da ist er. In seinem mit dunklem Zobel verschwenderisch ausgeschlagenen schwarzen Samtrock, ein schöner, übermütiger Despot, der mit Menschenleben und Menschenseelen spielt. Er steht im Vorsaal, sieht stolz umher und lässt seine Augen unheimlich lange auf mir ruhen.
    Mich fasst unter seinem eisigen Blick wieder jene entsetzliche Todesangst, die Ahnung, dass dieser Mann sie fesseln, sie berücken, sie unterjochen kann, und ein Gefühl von Scham seiner wilden Männlichkeit gegenüber, von Neid, von Eifersucht.«
    Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz

Zum ersten Mal erblickte ich Marius auf einer Beerdigung, lange bevor ich auch nur dunkel ahnte, dass ich Verwendung für ihn hätte, beziehungsweise er für mich. Ein Dorffriedhof in Shropshire und ein typischer Morgen am Wrekin, wie sie der Dichter Housman verewigt hat, strömender Regen auf Fels und Hügel, vom Sturmwind gekrümmte Schösslinge, ein trübsinniger, triefnasser Morgen, an dem man lieber tot als lebendig wäre. Mir machte es nichts aus, ich kam von woanders her. Ich konnte in Gummistiefel schlüpfen, bevor ich das Hotel verließ, einen Schirm aufspannen, ertragen, was ertragen werden musste, und wieder verschwinden. Andere am Grab Versammelte lebten freiwillig in dieser trostlosen Gegend. Fragen Sie mich nicht, warum. Um an ihrer eigenen vorzeitigen Grablegung mitzuwirken, vermute ich mal. Um mit dem Leben fertig zu sein, bevor das Leben mit ihnen fertig war.
    Was für eine Lust auf Schmerz. Was für eine apokalyptische Ungeduld. Ich meine nicht nur in Shropshire, obwohl Shropshire vielleicht stärker damit geschlagen ist, ich meine, überall. Her mit der schmutzigen Bombe, rufen wir und veröffentlichen Bauanleitungen dafür im Internet. Blast, Winde, dass die Backen platzen! Wir verwüsten die Erde, errichten unser Zelt am Fuß eines schmelzenden Eisbergs oder eines brodelnden Vulkans, wir sonnen uns auf der Bahn eines Tsunamis. Wir können es nicht erwarten, dass alles vorbei ist. Masochisten, die wir sind.
    Dabei hätten wir längst ein Mittel, exquisit zu leiden und dennoch am Leben zu bleiben, wenn wir nur wüssten, wo wir suchen sollen. In unseren Betten zum Beispiel, den geliebten
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