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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst
Autoren: Howard Jacobson
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schwach.«
    Â»Schwach?«
    Schwach!
    Â»Das muss ich schon selbst entscheiden.«
    Â»Nein.«
    Von mir aus hätte ich so weitermachen können. Ich hatte sogar schon »Wieso nein???« eingetippt, bevor ich es mir anders überlegte. Eine kranke Frau, die kurz vor einer Operation steht, kann nicht eine SMS nach der anderen schreiben.
    Den halben Tag ließ ich in morbidem Selbstmitleid verstreichen – kramte in den Sachen von ihr, die mir noch geblieben waren, sah mir alte Fotos an, las in alten Briefen, gab mir die Schuld an allem, stellte mir ein Leben ohne sie vor, genauso wie ich mir ein Leben ohne meine Mutter vorgestellt hatte, und alle anderen Frauen, an denen mir je in meinem Leben etwas gelegen war, und verkroch mich dann wieder hinter meinen Tränenvorhang. Am Nachmittag riss ich mich endlich zusammen, durchsuchte das Telefonbuch und rief systematisch alle Krankenhäuser in London an, um herauszufinden, in welchem Marisa aufgenommen worden war. Schließlich spürte ich sie auf, in einer Privatklinik in Kingston. Mittlerweile war es fast Mitternacht. Als ich der Krankenschwester sagte, ich sei Marisa Quinns Ehemann, sagte sie mir erstaunt, die Operation sei erst für übermorgen angesetzt. »Ich bin nicht in London«, erklärte ich, was sie noch mehr erstaunte.
    Ich fragte, ob ich sie sprechen könne, aber es hieß, sie schlafe gerade. Das fand ich beruhigend. Sie hätte meine Stimme jetzt bestimmt nicht hören wollen, und ich ihre bestimmt nicht ausgehalten, dazu war ich nicht Manns genug.
    Am nächsten Morgen schickte ich ihr mit einem Taxi eine Ladung Blumen auf die Station. Kaum war das Taxi losgefahren, sprang ich in das nächste und sagte dem Fahrer, er solle dem ersten folgen. Als ich in Putney ankam, sah ich meinen Fehler ein und konnte den Fahrer dazu bewegen umzukehren. Was sollte ich im Krankenhaus tun, wenn Marisa mich nicht sehen wollte? Und ich wusste ja, dass sie mich nicht sehen wollte. Im Wartezimmer abhängen? Flops über den Weg laufen? Rumsitzen, den Kopf zwischen den Knien, und den Tod riechen?
    Marisa hatte recht. Ich war zu schwach.
    Oft genug hatten wir darüber gestritten. »Mit dir geht’s mir gut, Felix, aber weiß der Himmel, wie du dich in einem Notfall verhalten würdest«, hatte sie gesagt.
    Â»Ich würde mich hinter dich stellen«, hatte ich geantwortet.
    Â»Genau«, hatte sie gesagt, aber nicht gelacht dabei.
    Einmal hatte sie sich beim Gemüseschnippeln in den Finger geschnitten. »Ruf einen Krankenwagen«, sagte sie seelenruhig. Als ich das Unglück sah, wurde ich ohnmächtig. Sie rief selbst den Krankenwagen.
    Ich war zu schwach.
    Schwach sein gehörte natürlich zu meiner Konstitution – keiner wusste das besser als ich. Wie alle Masochisten zog ich mir Schmerz zu, um ihn dann zu kontrollieren. Mein ganzes Leben war ein Protest gegen den blinden Zufall und die Böswilligkeit echter Grausamkeit, die willkürlich zuschlagen kann, wann und wo sie will. Denen, die mich der Grausamkeit gegen Marisa bezichtigen, sei gesagt: Ich habe sie damit auch vor den bitteren Eventualitäten des Lebens zu schützen versucht. Und dennoch, wenn sich diese bitteren Eventualitäten der Kunst entzogen, die ich daraus machte, dann wurde ich damit nicht fertig.
    Was hatte ich nicht für Ambitionen hinsichtlich unserer Ehe gehabt! In ein grandioses Abenteuer wollte ich uns stürzen, weit weg von der Furchtsamkeit der normalen Ehe. Und dann wurde ich nicht einmal mit der gängigsten aller Eventualitäten des Lebens fertig. Vor Jahren, in einem Café in San Francisco, bei der Lektüre von Charles Bukowskis Aufzeichnungen eines Au ßenseiters, hatte mich das große tragikomische Kneipengejammer des frustrierten Mannes betroffen gemacht: »Als einzelner Mensch konnte ich den Lauf der Sexualgeschichte nicht ändern. Dazu reichte es bei mir einfach nicht.« Warum mich das so betroffen gemacht hatte? Ich weiß es nicht. Ich hatte damals nicht vorgehabt, den Lauf der Sexualgeschichte zu ändern. Diesen Ehrgeiz entwickelte ich erst, als mein Blick auf Marisa fiel, beziehungsweise auf die vielen anderen, deren Blick auf Marisa fiel. Aber der Lehrsatz des eigenen Scheiterns wurmt sich ein, wenn man spürt, wonach man sucht. Und meiner lautete: »Dazu reichte es bei mir einfach nicht.«
    Nie würde ich den Lauf der Sexualgeschichte ändern, und nie würde ich Marisa
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