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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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bin dich suchen gegangen«, sagte sie.
    Wann? Eben erst? Oder gleich nachdem Greta sie verlassen hatte?
    Bestimmt nicht. Jemand hätte sie dort entdeckt, sie hochgehoben, Alarm geschlagen.
    Der Tag war sonnig, aber nicht sehr warm. Ihr Gesicht und ihre Hände waren eiskalt.
    »Ich dachte, du bist auf der Treppe«, sagte sie.
    Greta deckte sie in ihrer Koje mit der Decke zu, und in diesem Augenblick fing sie selbst an zu zittern, als hätte sie Fieber. Ihr war übel, und sie schmeckte auch wirklich Erbrochenes in der Kehle. Katy sagte: »Schubs mich nicht«, und rückte von ihr ab.
    »Du riechst schlecht«, sagte sie.
    Greta zog ihre Arme zurück und legte sich auf den Rücken.
    Ganz entsetzlich, zu denken, was hätte passieren können, entsetzlich. Das Kind war immer noch starr vor Protest, hielt sich von ihr fern.
    Irgendjemand hätte Katy bestimmt gefunden. Ein anständiger Mensch, kein böser Mensch, hätte sie dort entdeckt und in Sicherheit gebracht. Greta hätte die bestürzende Durchsage gehört, dass ein Kind allein im Zug gefunden worden sei. Ein Kind, das angab, sein Name sei Katy. Sie wäre losgestürzt von da, wo sie gerade war, hätte ihr Äußeres, so gut sie konnte, in Ordnung gebracht und wäre losgestürzt, um ihr Kind abzuholen, hätte gelogen und gesagt, dass sie nur auf die Toilette gegangen sei. Sie hätte sich furchtbar erschrocken, aber ihr wäre das Bild erspart geblieben, das sie jetzt im Kopf hatte, von Katy, die an diesem lauten Ort saß, hilflos zwischen den Waggons. Nicht weinte, nicht jammerte, als müsste sie für immer dort sitzen, ohne je eine Erklärung zu bekommen, ohne jede Hoffnung. Ihre Augen waren seltsam ausdruckslos, und ihr Mund hing einfach offen in dem Augenblick, bevor sie ihre Rettung begriff und anfangen konnte zu weinen. Erst da eroberte sie sich ihre Welt zurück, ihr Recht, zu leiden und sich zu beklagen.
    Jetzt sagte sie, sie sei nicht müde, wolle aufstehen. Sie fragte, wo Greg sei. Greta sagte, er mache ein Nickerchen, er sei müde.
    Katy und Greta gingen zum Aussichtswagen, um dort den Rest des Nachmittags zu verbringen. Sie hatten ihn fast ganz für sich. Die Leute mit den Fotoapparaten mussten sich an den Rocky Mountains abgearbeitet haben. Und die Prärie, wie Greg angemerkt hatte, war ihnen zu platt.
    Der Zug hielt kurz in Saskatoon, und mehrere Leute stiegen aus. Darunter Greg. Greta sah, wie er von einem Paar in Empfang genommen wurde, offenbar seinen Eltern. Auch von einer Frau in einem Rollstuhl, wahrscheinlich eine Großmutter, und dann von mehreren jungen Leuten, die warteten, fröhlich und verlegen. Niemand von ihnen wirkte wie ein Sektenmitglied oder wie jemand, der sittenstreng und unleidlich war.
    Aber wie konnte man das jemandem mit Sicherheit ansehen?
    Greg ging einen Schritt von ihnen weg und suchte die Fenster des Zuges ab. Greta winkte vom Aussichtswagen, er erblickte sie und winkte zurück.
    »Da ist Greg«, sagte sie zu Katy. »Sieh mal, da unten. Er winkt. Willst du zurückwinken?«
    Aber Katy fiel es zu schwer, nach ihm zu schauen. Zumindest versuchte sie es nicht. Sie wandte sich mit artiger und leicht gekränkter Miene ab, und Greg wandte sich nach drolligem letzten Winken auch ab. Greta überlegte, ob das Kind ihn bestrafte, weil es verlassen worden war, und sich weigerte, ihn zu vermissen oder auch nur von ihm Notiz zu nehmen.
    Also gut, wenn es so sein soll, dann soll es so sein.
    »Greg hat dir zugewinkt«, sagte Greta, als der Zug abfuhr.
    »Ich weiß.«
     
     
    Während Katy an dem Abend neben ihr schlief, schrieb Greta einen Brief an Peter. Einen langen Brief, der komisch sein sollte, über all die unterschiedlichen Menschen im Zug. Wie sie es vorzogen, in ihre Kamera zu gucken, statt mit eigenen Augen hinzuschauen und so weiter. Katys im Allgemeinen verträgliches Verhalten. Nichts von ihrem Verschwinden natürlich oder dem Schreck. Sie gab den Brief auf, als die Prärie schon weit hinter ihr lag, die dunklen Fichten sich endlos erstreckten und der Zug aus irgendeinem Grund in dem verlorenen kleinen Städtchen Hornepayne hielt.
    All ihre wachen Stunden wurden auf diesen Hunderten von Meilen Katy gewidmet. Sie wusste, dass solche Hingabe ihrerseits sich noch nie zuvor gezeigt hatte. Es stimmte, dass sie für das Kind gesorgt hatte, es angezogen, gefüttert und mit ihm geredet hatte, im Laufe der Stunden, die sie zusammen verbrachten, wenn Peter seiner Arbeit nachging. Aber Greta hatte dann auch andere Dinge im Haus zu tun, und ihre
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