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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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waren.
    (Peters Mutter und seine Arbeitskollegen – jene, die davon wussten – sagten immer noch Dichterin. Ihn hatte sie dazu erzogen, es nicht zu sagen. Weitere Erziehungsarbeit war nicht notwendig. Die Verwandten, die sie in ihrem Leben hinter sich gelassen hatte, und die Leute, die sie jetzt in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter kannten, wussten nichts von dieser Besonderheit.)
    Später in ihrem Leben ließ sich nur schwer erklären, was eigentlich zu jener Zeit gebilligt wurde und was nicht. Sie konnte sagen, Feminismus jedenfalls nicht. Aber dann musste sie erklären, dass das Wort Feminismus damals noch gar nicht in Gebrauch war. Also behalf sie sich damit, zu sagen, irgendeinen ernsthaften Gedanken zu haben – geschweige denn Ehrgeiz – oder vielleicht sogar ein richtiges Buch zu lesen, konnte dich verdächtig machen und mit der Lungenentzündung deines Kindes in Verbindung gebracht werden, und eine politische Bemerkung auf der Firmenfeier konnte deinen Mann die Beförderung kosten. Es kam gar nicht darauf an, für oder gegen welche Partei. Eine Frau hatte den Mund zu weit aufgemacht, das war’s.
    Woraufhin die Leute lachten und sagten: Sie machen bestimmt Witze, und sie nur sagen konnte: Na ja, nicht so ganz. Sie setzte hinzu, wenn man jedoch Gedichte schrieb, dann war es etwas sicherer, eine Frau zu sein und kein Mann. Dafür stand nämlich das Wort Dichterin zur Verfügung, wie ein Gespinst aus Zuckerwatte. Peter hätte bestimmt nicht so gedacht, sagte sie, doch man durfte nicht vergessen, er war in Europa geboren. Er hätte allerdings verstanden, warum seine Arbeitskollegen so dachten.
     
     
    In jenem Sommer sollte Peter einen Monat lang oder vielleicht länger Arbeiten beaufsichtigen, die in Lund ausgeführt wurden, weit oben im Norden, sogar so weit nördlich, wie es auf dem Festland nur ging. Dort gab es keine Unterbringungsmöglichkeit für Katy und Greta.
    Aber Greta war mit einer jungen Frau in Verbindung geblieben, mit der sie in der Stadtbibliothek von Vancouver zusammengearbeitet hatte und die inzwischen verheiratet war und in Toronto lebte. Sie und ihr Mann wollten in jenem Sommer einen Monat in Europa verbringen – er war Lehrer –, und sie hatte Greta geschrieben und gefragt, ob Greta mit ihrer Familie ihnen einen Gefallen tun – sie war sehr höflich – und das Haus in Toronto für einen Teil dieser Zeit hüten könnte, damit es nicht leer stand. Und Greta hatte ihr zurückgeschrieben, ihr von Peters Arbeit erzählt, aber das Angebot für Katy und sich angenommen.
    Deshalb standen sie jetzt und winkten unablässig vom Bahnsteig und aus dem Zug.
     
     
    Es gab damals eine Zeitschrift namens
The Echo Answers
, die unregelmäßig in Toronto erschien. Greta hatte sie in der Bibliothek entdeckt und einige Gedichte an die Redaktion geschickt. Zwei der Gedichte waren abgedruckt worden, und als der Herausgeber der Zeitschrift dann im letzten Herbst nach Vancouver kam, war sie zusammen mit anderen Schriftstellern zu einem Empfang eingeladen worden, um ihn kennenzulernen. Der Empfang fand im Haus eines Schriftstellers statt, dessen Name ihr vom Gefühl her seit ihrer Kindheit vertraut war. Er war für den späten Nachmittag angesetzt, eine Zeit, zu der Peter noch arbeiten musste, also engagierte sie einen Babysitter und fuhr im North-Vancouver-Bus über die Lions Gate Bridge und durch den Stanley Park. Dann musste sie vor der Hudson’s Bay Station warten, auf die lange Fahrt hinaus zum Universitätsviertel, wo der Schriftsteller wohnte. Sie verließ den Bus an der Endhaltestelle, fand die Straße, ging sie hinauf und hielt nach der Hausnummer Ausschau. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen, die sie beträchtlich verlangsamten. Außerdem ihr elegantestes schwarzes Kleid, das einen Reißverschluss auf dem Rücken hatte, die Taille lose umspielte und um die Hüften immer ein bisschen zu eng war. Sie sah darin ein wenig lächerlich aus, dachte sie, während sie die gewundene Straße ohne Bürgersteig entlangstakste, als Einzige unterwegs im dunkelnden Nachmittag. Moderne Häuser, Panoramafenster wie in jedem aufstrebenden Vorort, überhaupt nicht die Umgebung, die sie erwartet hatte. Sie begann sich zu fragen, ob sie sich in der Straße geirrt hatte, und der Gedanke machte sie nicht unglücklich. Sie konnte zu der Bushaltestelle zurücklaufen, wo es eine Bank gab. Konnte die Schuhe ausziehen und in Ruhe auf die lange, einsame Heimfahrt warten.
    Aber dann sah sie die parkenden Autos, die
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