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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Geschwindigkeit ganz hinter sich ließen, nahm Katy den Verlust sehr schwer. Aber nach einer Weile beruhigte sie sich und verkündete Greta, dass er am Morgen wieder da sein würde.
    Als diese Zeit kam, war Greta ein wenig besorgt, aber Katy sagte kein Wort von seiner Abwesenheit. Greta fragte sie, ob sie Hunger habe, und sie sagte ja, erklärte dann ihrer Mutter – wie Greta es ihr erklärt hatte, noch bevor sie überhaupt in den Zug eingestiegen waren –, dass sie jetzt ihre Schlafanzüge ausziehen und zum Frühstück in ein anderes Zimmer gehen mussten.
    »Was möchtest du zum Frühstück?«
    »Beißies.« Das bedeutete Rice Krispies.
    »Mal sehen, ob es die hier gibt.«
    Es gab sie.
    »Sollen wir jetzt gehen und Daddy suchen?«
     
     
    Es gab zwar ein Kinderspielabteil, aber es war ziemlich klein. Ein Junge und ein Mädchen – Bruder und Schwester, nach ihrer zueinander passenden Häschenkleidung zu urteilen – hatten es vereinnahmt. Ihr Spiel bestand daraus, kleine Autos aufeinander zuzusteuern und im letzten Moment Ausweichmanöver zu versuchen. KRACH BUM KRACH .
    »Das ist Katy«, sagte Greta. »Ich bin ihre Mutter. Wie heißt ihr?«
    Die Zusammenstöße wurden heftiger, aber die beiden schauten nicht auf.
    »Daddy ist nicht hier«, sagte Katy.
    Greta beschloss, dass es besser war, wenn sie zurückgingen, Katys
Christopher Robin
-Buch holten und damit den Aussichtswagen aufsuchten, um es dort zu lesen. Wahrscheinlich würden sie niemanden stören, denn das Frühstück war noch nicht vorbei und die spektakuläre Gebirgslandschaft hatte noch nicht angefangen.
    Das Problem war, sobald
Christopher Robin
zu Ende war, wollte Katy sofort wieder von vorn anfangen. Beim ersten Vorlesen war sie still gewesen, doch jetzt begann sie, das Ende der Zeilen mitzusprechen. Beim nächsten Mal sang sie Wort für Wort mit, obwohl sie noch nicht bereit war, es allein zu versuchen. Greta konnte sich vorstellen, dass den Leuten das lästig sein würde, sobald der Aussichtswagen sich füllte. Kinder in Katys Alter hatten kein Problem mit Monotonie. Sie stürzten sich geradezu darauf und tauchten hinein, schleckten an den vertrauten Worten, als seien es unerschöpfliche Bonbons.
    Ein junger Mann und eine junge Frau kamen die Treppe herauf und nahmen gegenüber von Greta und Katy Platz. Sie sagten recht munter guten Morgen, und Greta erwiderte die Begrüßung. Katy missbilligte offenbar, dass sie die beiden zur Kenntnis nahm, schaute wieder ins Buch und fuhr fort, leise aufzusagen.
    Von drüben war die Stimme des jungen Mannes zu hören, fast so leise wie Katys:
    Beim Wachwechsel vor dem Buckingham-Palast
    Ist Christopher Robin mit Alice zu Gast.
    Nachdem er damit fertig war, fing er mit etwas anderem an. »›Ich mag das nicht, denn ich bin Sam.‹«
    Greta lachte, aber Katy nicht. Greta merkte ihr an, dass sie etwas empörte. Lustige Wörter, die aus einem Buch kamen, das verstand sie, aber nicht, wie Wörter ohne Buch aus jemandes Mund kamen.
    »Tut mir leid«, sagte der junge Mann zu Greta. »Wir sind Vorschüler. Das ist unser Lesestoff.« Er beugte sich vor und sprach leise und ernsthaft auf Katy ein.
    »Das ist ein schönes Buch, nicht wahr?«
    »Er meint, wir arbeiten mit Vorschülern«, sagte die junge Frau zu Greta. »Aber manchmal kommen wir durcheinander.«
    Der junge Mann redete weiter mit Katy.
    »Vielleicht kann ich jetzt raten, wie du heißt. Wie heißt du? Heißt du Rufus? Heißt du Rover?«
    Katy kniff die Lippen zusammen, konnte dann aber nicht widerstehen, streng zu antworten.
    »Ich bin kein Hund«, sagte sie.
    »Nein. Das war dumm von mir. Ich bin ein Junge, und ich heiße Greg. Das Mädchen hier heißt Laurie.«
    »Er hat dich auf den Arm genommen«, sagte Laurie. »Soll ich ihm eine kleben?«
    Katy bedachte das und sagte dann: »Nein.«
    »›Alice heiratet mal einen Wachsoldat‹«, fuhr Greg fort, »›Das Soldatenleben ist desolat‹, sagt Alice.«
    Katy fiel leise bei der zweiten Alice mit ein.
    Laurie erzählte Greta, dass sie von Kindergarten zu Kindergarten gefahren waren und Sketche aufgeführt hatten. Das nannte sich Leseförderungsprogramm. Eigentlich waren sie Schauspieler. Sie, Laurie, war auf dem Weg nach Jasper, wo sie für den Sommer einen Job als Kellnerin mit komischen Einlagen hatte. Nicht direkt Leseförderung. Erwachsenenunterhaltung nannte sich das.
    »Großer Gott«, sagte sie und lachte. »Nimm, was du kriegen kannst.«
    Greg war frei und wollte in Saskatoon vorbeischauen. Seine
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