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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Parklücke heraus.
    Auf der Lions Gate Bridge sagte er: »Entschuldigen Sie meine Redeweise. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich Sie küssen soll oder nicht, und beschlossen, es nicht zu tun.«
    Sie meinte herauszuhören, sie habe etwas an sich, was nicht ganz die Ansprüche für einen Kuss erfüllte. Die Demütigung machte sie mit einem Schlag wieder nüchtern.
    »Wenn wir von der Brücke runterkommen, müssen wir dann rechts zum Marine Drive?«, fuhr er fort. »Ich verlasse mich auf Ihre Anweisungen.«
     
     
    Im folgenden Herbst und Winter und Frühling gab es kaum einen Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Es war, als fiele man sofort nach dem Einschlafen in immer denselben Traum. Sie pflegte den Kopf an das Rückenpolster des Sofas zu lehnen und sich vorzustellen, dass sie in seinen Armen lag. Man sollte meinen, dass sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte, doch es erstand in allen Einzelheiten, das verknitterte Gesicht eines recht müde aussehenden Mannes, der zu Spott neigte und nur wenig Zeit im Freien verbrachte. Auch sein Körper fehlte nicht, war zwar nicht mehr jung, aber kundig und unendlich begehrenswert.
    Sie weinte fast vor Verlangen. Doch dieser Tagtraum verschwand, ging in Winterschlaf, wenn Peter nach Hause kam. Alltägliche Zärtlichkeiten traten dann in den Vordergrund, zuverlässig wie immer.
    Der Traum ähnelte in vielem dem Wetter von Vancouver – eine trübe Sehnsucht, eine regnerische, träumerische Traurigkeit, eine Schwere ums Herz.
    Was war denn nun mit der Weigerung, sie zu küssen, die ein ungalanter Hieb sein konnte?
    Sie strich sie einfach aus. Vergaß sie völlig.
    Und was war mit ihren Gedichten? Keine Zeile, kein Wort. Keine Spur davon, dass ihr das je am Herzen gelegen hatte.
    Natürlich gab sie diesen Anfällen nur Raum, wenn Katy ein Schläfchen hielt. Manchmal sprach sie seinen Namen laut aus, überließ sich Hirngespinsten. Dem folgten brennende Schamgefühle und Selbstverachtung. Hirngespinste, jawohl. Hirnrissig.
    Dann gab es einen Ruck, die Aussicht auf den Auftrag in Lund, schließlich die Gewissheit, dazu das Angebot des Hauses in Toronto. Ein klarer Wetterwechsel, ein Anflug von Beherztheit.
     
     
    Ohne es fest vorzuhaben, schrieb sie einen Brief. Er fing nicht mit irgendeiner üblichen Floskel an. Kein Lieber Harris, kein Erinnerst Du Dich an mich.
    Diesen Brief schreiben ist wie einen Zettel in eine Flasche stecken …
    Und hoffen,
    Er wird Japan erreichen.
    Was einem Gedicht seit geraumer Zeit noch am nächsten kam.
    Sie wusste die Adresse nicht. Sie war kühn und töricht genug, die Leute anzurufen, die den Empfang gegeben hatten. Aber als die Frau sich meldete, wurde ihr Mund schlagartig trocken und fühlte sich so groß an wie die Tundra, und sie musste auflegen. Dann karrte sie Katy zur Stadtbibliothek und fand dort ein Telefonbuch von Toronto. Es gab viele Bennetts, aber keinen einzigen Harris oder H. Bennett.
    Da hatte sie den schrecklichen Einfall, in der Zeitung bei den Todesanzeigen nachzusehen. Sie konnte sich nicht davon abbringen. Sie wartete, bis der Mann, der das Bibliotheksexemplar las, fertig war. Sie bekam die Zeitung von Toronto sonst kaum zu Gesicht, da man über die Brücke fahren musste, um sie zu kriegen, und Peter brachte immer die
Vancouver Sun
mit nach Hause. Beim Durchblättern entdeckte sie seinen Namen über einer Kolumne. Er war also nicht tot. Ein Journalist mit eigener Kolumne. Natürlich wollte er nicht von irgendwelchen Leuten zu Hause angerufen werden.
    Er schrieb über Politik. Sein Artikel schien intelligent zu sein, aber daran lag ihr nichts.
    Sie schickte ihren Brief an ihn dorthin, an die Zeitung. Sie konnte nicht sicher sein, dass er seine Post selber öffnete, und sie dachte,
Privat
auf den Umschlag zu schreiben machte es nur schlimmer, also schrieb sie lediglich das Datum ihrer Ankunft und die Ankunftszeit des Zuges hin, nach den Zeilen über die Flasche. Keinen Namen. Sie dachte, ganz egal, wer den Umschlag aufmachte, er würde wohl an eine ältere Verwandte denken, die zu schrulligen Formulierungen neigte. Nichts, was ihn kompromittieren konnte, nicht einmal, falls so merkwürdige Post den Weg zu ihm nach Hause fand und seine Frau, inzwischen aus der Klinik entlassen, sie öffnete.
     
     
    Katy hatte offenbar nicht begriffen, was es bedeutete, dass Peter draußen auf dem Bahnsteig stand, nämlich, dass er nicht mitfuhr. Als sie sich in Bewegung setzten, er aber nicht, und als sie ihn mit zunehmender
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