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Versprechen der Nacht

Versprechen der Nacht

Titel: Versprechen der Nacht
Autoren: Lara Adrian
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    Boston University,
    Oktober 1974
    Savannah Dupree drehte die silberne Urne in ihren behandschuhten Händen und studierte deren kunstvolle Gravierungen durch die bläuliche Patina des zweihundert Jahre alten Kunstwerks. Das in das polierte Silber getriebene Blumenmotiv deutete auf den Stil des Rokoko aus der Mitte des 18. Jahrhunderts hin, und doch war das Muster eher dezent, viel schlichter als auf den meisten vergleichbaren Beispielen in den Nachschlagewerken, die offen vor ihr auf dem Tisch im Seminarraum lagen.
    Savannah zog einen ihrer weichen weißen Baumwollhandschuhe aus, die die Urne während der Untersuchung vor Fettrückständen der Haut schützen sollten, und griff nach einem der Bücher. Sie blätterte durch mehrere Seiten Fotos von Kunstobjekten, Trinkgefäßen, Serviertellern und Schnupftabakdosen aus Italien, England und Frankreich und verglich deren aufwendigere Verzierungen mit denen der Urne, die sie zu katalogisieren versuchte. Sie und die drei anderen Kunstgeschichtsstudentinnen im ersten Studienjahr, die mit ihr zusammen in diesem Archivraum der Universität saßen, waren von Professor Keaton ausgesucht worden, um Pluspunkte in seinem Seminar zu sammeln, indem sie ihm bei der Inventarisierung und Analyse von kolonialen Möbelstücken und Kunstgegenständen aus einem kürzlich gespendeten Nachlass zur Hand gingen.
    Sie war nicht blind gegenüber der Tatsache, dass der unverheiratete Professor für sein Spezialprojekt außerhalb der regulären Unterrichtszeit nur Studentinnen ausgewählt hatte. Savannahs Mitbewohnerin Rachel war, als die Wahl auf sie gefallen war, förmlich ausgeflippt vor Begeisterung. Aber sie hatte auch seit der ersten Semesterwoche um Keatons Aufmerksamkeit gebuhlt. Und war definitiv bemerkt worden. Savannah sah zur Bürotür des Professors hinüber, wo der dunkelhaarige Mann gerade telefonierend am Fenster stand und dabei mit nur allzu offensichtlichem Interesse die hübsche, rothaarige Rachel in ihrem engen, tief ausgeschnittenen Pullover und dem ultrakurzen Mini begaffte.
    »Ist er nicht ein scharfer Hund?«, flüsterte sie Savannah zu, und ihre vielen dünnen Metallarmreifen klirrten melodisch, als sie die Hand hob, um sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. »Könnte doch glatt Burt Reynolds’ Bruder sein, findest du nicht auch?«
    Savannah runzelte skeptisch die Stirn. Sie sah zu dem schlanken Mann mit dem schulterlangen Haar und dem wilden Schnauzer hinüber.
    Er trug einen hellbraunen Cordanzug und ein Satinhemd mit offenem Kragen, aus dem dunkles Brusthaar quoll; darin glitzerte ein Kettenanhänger mit seinem Sternzeichen. Hip oder nicht, der Look ließ Savannah absolut kalt. »Tut mir leid, Rach. Ich seh’s nicht. Nur wenn Burt Reynolds einen Bruder im Pornobusiness hat. Und er ist zu alt für dich. Menschenskind, der ist doch fast vierzig!«
    »Halt die Klappe! Ich finde ihn süß«, kicherte Rachel, verschränkte die Arme unter den Brüsten und warf ihren Kopf schwungvoll in den Nacken. Prompt lehnte Professor Keaton sich noch näher an die Scheibe, jetzt sabberte er fast. »Ich geh ihn mal fragen, ob er nicht einen Blick auf meine Arbeit werfen will. Vielleicht bittet er mich ja, nach der Uni noch dazubleiben und seine Radiergummis zu sortieren oder so.«
    »Mhmmm. Oder so«, meinte Savannah gedehnt und schüttelte lächelnd den Kopf, als Rachel mit den Augenbrauen wackelte und dann zu dem Büro des Professors herüberstolzierte. Savannah, die mit einem Vollstipendium und der höchsten Punktzahl beim Zulassungstest von zweiundzwanzig Kommunen in South Central Louisiana an die Uni von Boston gekommen war, hatte es eigentlich nicht nötig, ihre Noten aufzubessern. Dass sie dieses Extra-Studienprojekt angenommen hatte, lag nur an ihrem unstillbaren akademischen Wissensdurst.
    Wieder sah sie die Urne an, dann holte sie sich einen anderen Katalog mit Londoner Silberwaren der Kolonialzeit und verglich das Stück mit den dort aufgeführten. In ihrer ursprünglichen Einschätzung unsicher geworden, nahm sie ihren Bleistift und radierte aus, was sie schon in ihr Notizbuch geschrieben hatte. Die Urne war nicht aus England.
Amerikanisch,
korrigierte sie. Wahrscheinlich in New York oder Philadelphia hergestellt. Oder deutete die Schlichtheit des Rokokomusters doch eher auf die Arbeit eines Kunsthandwerkers aus Boston hin?
    Savannah stieß einen leisen Seufzer aus, frustriert darüber, wie langweilig und ungenau diese Arbeit letztendlich war. Schließlich
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