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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Zuwendung war sporadisch, ihre Zärtlichkeiten oft taktisch.
    Und das nicht nur wegen der Hausarbeit. Andere Gedanken hatten das Kind verdrängt. Sogar noch vor den sinnlosen, ermüdenden, idiotischen Träumereien von dem Mann in Toronto war die andere Arbeit da gewesen, die Arbeit an Gedichten, die sie, so schien es, fast ihr Leben lang im Kopf getan hatte. Das kam ihr jetzt vor wie ein weiterer Verrat – an Katy, an Peter, am Leben. Und jetzt, wegen des Bildes in ihrem Kopf von Katy, wie sie ganz allein mitten in dem metallischen Lärmen zwischen den Waggons saß, war das noch etwas, was sie, Katys Mutter, aufgeben musste.
    Eine Sünde. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf anderes gerichtet. Hatte sich willentlich mit aller Kraft auf etwas anderes konzentriert als das Kind. Eine Sünde.
     
     
    Sie kamen am späten Vormittag in Toronto an. Der Tag war dunkel. Ein Sommergewitter ging mit Blitz und Donner nieder. Katy hatte solch einen Tumult an der Westküste noch nie gesehen, aber Greta sagte ihr, sie brauche keine Angst zu haben, und sie hatte offenbar keine. Auch nicht vor der noch größeren, elektrisch beleuchteten Dunkelheit, die ihnen in dem Tunnel begegnete, in dem der Zug hielt.
    Sie sagte: »Nacht.«
    Greta sagte, nein, nein, sie mussten nur bis zum Ende des Tunnels gehen, jetzt, wo sie aus dem Zug ausgestiegen waren. Dann eine Treppe hinauf, oder vielleicht gab es eine Rolltreppe, und dann würden sie in einem großen Gebäude sein und dann draußen, wo sie sich ein Taxi nehmen würden. Ein Taxi war ein Auto, weiter nichts, und das würde sie zu ihrem Haus bringen. Ihrem neuen Haus, wo sie eine Weile lang wohnen würden. Sie würden dort eine Weile lang wohnen, und dann würden sie zurückfahren zu Daddy.
    Sie gingen eine Schräge hinauf, und da war eine Rolltreppe. Katy blieb stehen, also blieb Greta auch stehen, bis die Leute an ihnen vorbei waren. Dann hob Greta Katy hoch und setzte sie sich auf die Hüfte, mit der anderen Hand packte sie den Koffer und zog ihn rumpelnd auf die gleitenden Stufen. Oben setzte sie das Kind ab, und sie konnten sich wieder bei den Händen halten, im hellen, prächtigen Licht der Union Station.
    Dort begannen die Leute, die vor ihnen gegangen waren, auseinanderzustreben, um von den Wartenden in Empfang genommen zu werden, die ihre Namen riefen oder einfach auf sie zugingen und ihre Koffer nahmen.
    Wie jemand jetzt ihren Koffer nahm. Ihn an sich nahm, Greta an sich nahm und sie zum ersten Mal küsste, auf entschlossene und feierliche Weise.
    Harris.
    Anfangs ein Schock, wirres Durcheinander in Gretas Innerem, dann ungemeine Beruhigung.
    Sie versuchte, Katy festzuhalten, aber die riss sich in diesem Augenblick los.
    Sie versuchte nicht, fortzulaufen. Sie stand einfach da und wartete darauf, was nun kam.

Amundsen
    I ch saß auf der Bank beim Bahnhof und wartete. Das Bahnhofsgebäude war offen gewesen, als der Zug ankam, aber jetzt war es abgeschlossen. Am Ende der Bank saß noch eine Frau, zwischen den Knien hielt sie ein Einkaufsnetz voller Päckchen, die in Ölpapier gewickelt waren. Fleisch – rohes Fleisch. Man konnte es riechen.
    Auf dem hinteren Gleis stand die leere Elektrobahn und wartete.
    Keine weiteren Fahrgäste erschienen, und nach einer Weile streckte der Stationsvorsteher den Kopf heraus und rief: »San.« Anfangs dachte ich, er riefe einen Männernamen, Sam. Und tatsächlich kam ein Mann in einer Art Uniform um die Ecke des Gebäudes. Er überquerte die Gleise und stieg in den Zug. Die Frau mit den Päckchen stand auf und folgte ihm, also tat ich es auch. Von der anderen Straßenseite erscholl plötzlich lautes Stimmengewirr, die Tür eines Gebäudes mit einem Flachdach und dunklen Schindeln an den Wänden tat sich auf und entließ mehrere Männer, die sich Mützen auf den Kopf stülpten und an deren Gürteln klappernde kleine Eimer mit ihrem Mittagessen baumelten. Der Lärm, den sie veranstalteten, erweckte den Eindruck, der Zug könne ihnen jeden Augenblick vor der Nase wegfahren. Aber dann ließen sie sich auf den Sitzen nieder, und nichts passierte. Der Zug stand, während sie einander abzählten, feststellten, dass einer fehlte, und dann dem Zugführer sagten, er könne noch nicht losfahren. Dann fiel jemandem ein, dass der fehlende Mann seinen freien Tag hatte. Der Zug setzte sich in Bewegung, obwohl sich nicht sagen ließ, ob der Zugführer hingehört hatte oder ob es ihm egal war.
    Alle Männer stiegen bei einem Sägewerk im Wald aus – zu dem sie
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