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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Pelz auf dem Kragen?«
    »Persianer. Allerdings kein echter.«
    »Hätt ich nie gemerkt. Ich weiß nicht, warum man Sie hier reingesteckt hat, Sie werden sich den Hintern abfrieren. Entschuldigung. Sie wollen zum Doktor. Ich kann Ihnen den Weg zeigen. Ich weiß, wo alles ist, ich wohne hier praktisch seit meiner Geburt. Meine Mutter führt die Küche. Ich heiße Mary. Wie heißen Sie?«
    »Vivi. Vivien.«
    »Wenn Sie Lehrerin sind, muss es dann nicht Miss heißen? Miss wie?«
    »Miss Hyde.«
    »Und ich bin Dr. Jekyll«, sagte sie. »Tut mir leid, war nur so’n Einfall. Wär schön, wenn Sie meine Lehrerin sein könnten, aber ich muss in der Stadt zur Schule gehen. So sind die blöden Regeln. Weil ich keine TB habe.«
    Während sie redete, führte sie mich durch die Tür am anderen Ende der Kleiderablage und dann einen ganz normalen Krankenhausflur entlang. Gebohnertes Linoleum. Mattgrüne Farbe, antiseptischer Geruch.
    »Wo Sie jetzt hier sind, vielleicht kriege ich Reddy dazu, dass er mich wechseln lässt.«
    »Wer ist Reddy?«
    »Reddy Fox. Das ist aus einem Buch. Anabel und ich, wir hatten gerade angefangen, ihn so zu nennen.«
    »Wer ist Anabel?«
    »Jetzt niemand mehr. Sie ist tot.«
    »Oh, tut mir leid.«
    »Nicht Ihre Schuld. Das kommt hier vor. Ich bin dieses Jahr in der Highschool. Anabel konnte nie richtig zur Schule gehen. Als ich eingeschult wurde, hat Reddy die Lehrerin in der Schule überredet, mich viel zu Hause zu lassen, damit ich ihr Gesellschaft leisten konnte.«
    Sie blieb vor einer halboffenen Tür stehen und pfiff.
    »He, ich bring die Lehrerin.«
    Eine Männerstimme sagte: »Ist gut, Mary. Für heute genug von deinen Sprüchen.«
    »Geht klar. Verstanden.«
    Sie schlenderte davon, und ich stand einem schmalen Mann von normaler Größe gegenüber, dessen rotblonde Haare sehr kurz geschnitten waren und im Neonlicht des Flures glänzten.
    »So, nun kennen Sie Mary«, sagte er. »Sie hat immer viel zu sagen. Sie wird nicht in Ihrer Klasse sein, also müssen Sie das nicht jeden Tag über sich ergehen lassen. Entweder man mag sie oder nicht.«
    Er musste meinem Eindruck nach etwa zehn bis fünfzehn Jahre älter als ich sein, und anfangs redete er mit mir auch genauso, wie ein älterer Mann es tun würde. Ein vielbeschäftigter zukünftiger Arbeitgeber. Er erkundigte sich nach meiner Reise, nach den Vorkehrungen für meinen Koffer. Er wollte wissen, wie es mir gefallen würde, hier oben in den Wäldern zu leben, nach Toronto, ob ich mich langweilen würde.
    Nicht im mindesten, sagte ich und fügte hinzu, dass es hier schön sei.
    »Es ist – es ist wie mitten in einem russischen Roman.«
    Er sah mich zum ersten Mal aufmerksam an.
    »Tatsächlich? Welcher russische Roman?«
    Seine Augen waren von hellem, strahlendem Graublau. Eine Augenbraue hatte sich gehoben, wie eine kleine spitze Kappe.
    Nicht, dass ich keine russischen Romane gelesen hätte. Einige hatte ich ganz gelesen und andere ein Stück weit. Aber wegen dieser Augenbraue und seines amüsierten, aber herausfordernden Gesichtsausdrucks fiel mir kein Titel außer
Krieg und Frieden
ein. Den wollte ich nicht nennen, weil es der war, der jedem einfallen würde.
    »Krieg und Frieden.«
    »Tja, hier haben wir nur den
Frieden
, würde ich sagen. Aber wenn es der
Krieg
war, nach dem Sie Verlangen hatten, nehme ich an, Sie hätten sich einer dieser Frauenorganisationen angeschlossen und wären nach Übersee gegangen.«
    Ich ärgerte mich und schämte mich, weil ich eigentlich gar nicht angegeben hatte. Oder nicht nur. Ich hatte sagen wollen, welche wunderbare Wirkung diese Landschaft auf mich hatte.
    Er war offenbar so jemand, der Fragen stellte, die Fallen waren, in die man gehen sollte.
    »Vermutlich habe ich eigentlich eine Pensionärin erwartet, die hinter ihrem Ofen hervorgekrochen ist«, sagte er ein wenig entschuldigend. »Als würde jeder im richtigen Alter und mit der richtigen Qualifikation heutzutage sofort unterkommen. Sie haben doch nicht studiert, um Lehrerin zu werden? Was wollten Sie anfangen, sobald Sie Ihren B.A. hatten?«
    »Mich auf meinen M.A. vorbereiten«, sagte ich kurz.
    »Und was hat Sie umgestimmt?«
    »Ich dachte, ich sollte mal Geld verdienen.«
    »Vernünftige Idee. Obwohl ich fürchte, Sie werden hier nicht viel verdienen. Verzeihen Sie meine Neugier. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie nicht gleich wegrennen und uns im Stich lassen. Sie haben doch nicht vor, zu heiraten?«
    »Nein.«
    »Schon gut. Schon gut. Jetzt
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