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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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zu Fuß höchstens zehn Minuten gebraucht hätten –, und gleich danach kam der schneebedeckte See in Sicht. Davor ein langgestrecktes weißes Holzhaus. Die Frau rückte ihre Fleischpäckchen zurecht und stand auf, ich folgte ihr. Der Zugführer rief wieder »San«, und die Türen gingen auf. Zwei Frauen warteten, um einzusteigen. Sie grüßten die Frau mit dem Fleisch, und die sagte, ein rauher Tag.
    Alle vermieden es, mich anzuschauen, als ich hinter der Fleischfrau ausstieg.
    An diesem Ende gab es offenbar niemanden, auf den gewartet werden musste. Die Türen knallten zu, und der Zug fuhr zurück.
    Dann trat Stille ein, die Luft wie Eis. Zerbrechlich aussehende Birken mit schwarzen Flecken auf der weißen Rinde und irgendeine Sorte niedriger, wuscheliger Nadelhölzer, zusammengerollt wie schlafende Bären. Der zugefrorene See nicht eben, sondern aufgeworfen entlang des Ufers, als hätten sich die Wellen im Augenblick des Niedersinkens in Eis verwandelt. Dann das Gebäude mit seinen ostentativen Fensterreihen und den verglasten Veranden an beiden Enden. Alles karg und nördlich, schwarzweiß unter dem hohen Gewölbe der Wolken.
    Aber die Birken doch nicht weiß, wenn man näher kam. Graugelb, graublau, grau.
    Ungeheure, verzauberte Stille.
    »Wo wolln Sie denn hin?«, rief die Fleischfrau mir zu. »Besuchszeit ist nur bis drei.«
    »Ich bin keine Besucherin«, sagte ich. »Ich bin die Lehrerin.«
    »Dann dürfen Sie sowieso nicht zur Vordertür rein«, sagte sie mit einiger Befriedigung. »Kommen Sie lieber hier lang mit. Haben Sie keinen Koffer?«
    »Der Stationsvorsteher hat gesagt, er bringt ihn später vorbei.«
    »So, wie Sie gerade dastanden, haben Sie ausgesehen, als hätten Sie sich verirrt.«
    Ich sagte, ich sei stehen geblieben, weil es hier so schön sei.
    »Finden vielleicht manche. Falls sie nicht zu krank sind oder zu viel zu tun haben.«
    Weiter fiel kein Wort, bis wir die Küche am einen Ende des Gebäudes betraten. Deren Wärme ich bereits brauchte. Ich erhielt keine Gelegenheit, mich umzuschauen, denn ich wurde auf meine Stiefel aufmerksam gemacht.
    »Die ziehn Sie mal besser aus, bevor Sie damit den Fußboden einsauen.«
    Ich zerrte mir die Stiefel von den Füßen – es gab keinen Stuhl zum Hinsetzen – und stellte sie auf die Matte zu denen der Frau.
    »Lassen Sie die nicht da, nehmen Sie sie mit, ich weiß nicht, wo Sie untergebracht sind. Behalten Sie auch lieber den Mantel an, in der Kleiderablage gibt’s keine Heizung.«
    Keine Heizung, kein Licht, bis auf das wenige aus einem kleinen Fenster, zu dem ich nicht hinaufreichte. Es war wie Strafe kriegen in der Schule. Ab in die Kleiderablage. Ja. Derselbe Geruch nach nie richtig getrockneten Wintersachen, nach Stiefeln, durchweicht bis zu schmutzigen Socken und ungewaschenen Füßen.
    Ich stieg auf eine Bank, konnte aber trotzdem nicht hinausschauen. Auf dem Bord mit den Mützen und Schals fand ich eine Tüte mit Feigen und Datteln. Jemand musste sie gestohlen und dort versteckt haben, um sie mit nach Hause zu nehmen. Ganz plötzlich hatte ich Hunger. Seit morgens nichts gegessen bis auf ein trockenes Käsesandwich im Ontario Northland. Ich überlegte, was es hieß, einen Dieb zu bestehlen. Aber die Feigenreste würden in meinen Zähnen hängenbleiben und mich verraten.
    Ich stieg gerade noch rechtzeitig herunter. Jemand kam in die Kleiderablage. Keine von den Küchenhilfen, sondern ein Schulmädchen in einem unförmigen Wintermantel mit einem Schal über den Haaren. Sie kam hereingestürzt – warf die Bücher auf die Bank, so dass sie sich auf dem Fußboden verteilten, riss den Schal herunter, so dass die Haare in einem Busch hervorsprangen, und gleichzeitig, so schien es, streifte sie die Stiefel einen nach dem anderen so heftig ab, dass sie quer durch den Raum schlidderten.
    »He, ich wollte Sie nicht treffen«, sagte sie. »Es ist so dunkel hier drin nach dem Licht draußen, dass man nicht weiß, was man tut. Sind Sie nicht am Erfrieren? Warten Sie auf jemanden, der hier arbeitet?«
    »Ich warte auf Dr. Fox.«
    »Na, dann brauchen Sie nicht lange zu warten, ich bin gerade aus der Stadt mit ihm hergefahren. Sie sind doch nicht krank? Wenn Sie krank sind, können Sie nicht hierherkommen, Sie müssen ihn in der Stadt aufsuchen.«
    »Ich bin die Lehrerin.«
    »Ach ja? Sind Sie aus Toronto?«
    »Ja.«
    Eine kleine Pause, vielleicht aus Respekt.
    Doch nein. Eine Musterung meines Mantels.
    »Der ist wirklich hübsch. Was ist das für ein
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