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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Laute zu verkneifen.
    »Stark«, sagte Greg. »Echt stark.«
    »Ich muss zurück.«
    »Schon?«
    »Katy kann aufwachen, und ich bin nicht da.«
    »Gut. Gut. Ich muss mich sowieso für Saskatoon fertigmachen. Was, wenn wir mittendrin ankommen? Hallo, Mama. Hallo, Papa. Entschuldigt mich kurz, ich muss eben noch … Ja-haa!«
    Sie zog sich ordentlich an und verließ ihn. Dabei war es ihr ziemlich egal, wer ihr begegnete. Sie fühlte sich schwach, war geschockt, aber in Hochstimmung, wie ein Gladiator – sie malte sich das sogar aus und lächelte darüber – nach einer Runde in der Arena.
    Jedenfalls begegnete sie niemandem.
    Der unterste Verschluss des Vorhangs war offen. Sie war sich sicher, ihn zugemacht zu haben. Obwohl Katy, auch wenn er offen war, kaum hinausgelangen konnte und es bestimmt nicht versuchen würde. Zuvor, als Greta sie eine Minute allein lassen wollte, um auf die Toilette zu gehen, hatte sie ausführlich erklärt, dass Katy auf keinen Fall versuchen durfte, ihr zu folgen, und Katy hatte gesagt: »Mach ich nicht«, mit dem Vorwurf, dass sie wie ein Baby behandelt wurde.
    Greta packte die Vorhänge, um sie ganz aufzuziehen, und als sie das getan hatte, sah sie, dass Katy nicht da war.
    Sie drehte durch. Sie riss das Kissen hoch, als könnte ein Kind von Katys Größe sich damit zudecken. Sie klopfte mit den Händen die Decke ab, als könnte Katy sich darunter verbergen. Sie beherrschte sich und versuchte sich daran zu erinnern, wo der Zug gehalten hatte und ob er überhaupt gehalten hatte, während sie mit Greg zusammen war. Falls er gehalten hatte, hätte da ein Kidnapper in den Zug einsteigen und sich irgendwie mit Katy davonmachen können?
    Sie stand auf dem Gang und überlegte, was sie tun musste, um den Zug anzuhalten.
    Dann dachte sie, zwang sich zu denken, dass nichts dergleichen geschehen sein konnte. Sei nicht albern. Katy musste aufgewacht sein, gemerkt haben, dass sie nicht da war, und sie suchen gegangen sein. Ganz allein hatte sie sich auf die Suche gemacht.
    Ganz in der Nähe. Sie musste ganz in der Nähe sein. Die Türen an beiden Enden des Wagens gingen viel zu schwer, als dass Katy sie öffnen konnte.
    Greta vermochte sich kaum zu bewegen. Ihr ganzer Körper, ihr Kopf völlig leer. Das konnte nicht geschehen sein. Zurückkehren, zurück zu dem Augenblick, bevor sie mit Greg wegging. Da anhalten. Halt.
    Auf der anderen Seite des Ganges war ein zur Zeit unbesetzter Platz. Der Pullover einer Frau und eine Zeitschrift lagen da, um ihn zu reservieren. Weiter vorn ein Platz, dessen Verschlüsse alle zu waren – so wie bis eben bei ihrem, ihrem und Katys. Sie zog die Vorhänge mit einem Ruck auseinander. Der alte Mann, der dort schlief, drehte sich auf den Rücken, wachte aber nicht auf. Völlig unmöglich, dass er jemanden versteckte.
    Was für ein Unsinn.
    Dann eine neue Angst. Angenommen, Katy hatte sich auf den Weg zum einen oder anderen Ende des Wagens gemacht und es tatsächlich geschafft, eine Tür aufzukriegen. Oder war jemandem gefolgt, der sie vor ihr aufgemacht hatte. Zwischen den Wagen war ein kurzer Gang, wo man über die Stelle ging, an der die beiden Waggons miteinander verbunden waren. Dort spürte man plötzlich und erschreckend die Bewegung des Zuges. Eine schwere Tür hinter sich und eine weitere davor, und dazwischen klirrende Metallplatten. Die bedeckten die Stufen, die heruntergelassen wurden, wenn der Zug hielt.
    Man beeilte sich immer, diese Durchgänge hinter sich zu lassen, wo das Krachen und Schwanken daran erinnerte, dass alles vielleicht doch nicht so fest zusammengefügt war. Fast zu locker und viel zu schnell für dieses Krachen und Schwanken.
    Die Tür am Ende ließ sich sogar für Greta nur schwer öffnen. Oder die Angst hatte sie ausgelaugt. Sie stemmte sich mit der Schulter dagegen.
    Und dort, zwischen den Waggons, auf einer dieser unablässig lärmenden Metallplatten – da saß Katy. Augen weit offen, Mund leicht offen, verwirrt und allein. Sie weinte überhaupt nicht, aber als sie ihre Mutter sah, fing sie an.
    Greta packte sie, hob sie auf ihre Hüfte und taumelte wieder zu der Tür, die sie gerade geöffnet hatte.
    Jeder der Wagen hatte einen Namen, zum Gedenken an Schlachten oder Entdeckungen oder berühmte Kanadier. Ihr Wagen trug den Namen Connaught. Das würde sie nie vergessen.
    Katy hatte sich überhaupt nicht weh getan. Ihre Kleidung hatte sich auch nicht an den scharfen Kanten der hin und her gleitenden Metallplatten verfangen.
    »Ich
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