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Die vierte Todsuende

Die vierte Todsuende

Titel: Die vierte Todsuende
Autoren: Lawrence Sanders
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1
    Aus dem stahlgrauen Novemberhimmel über Manhattan nieselte es. Die rabenschwarze Nacht wurde hin und wieder von fernen Blitzen zum Tag gemacht, dann donnerte es dumpf und grollend. An einem Fenster seines Sprechzimmers stehend, starrte Dr. Simon Ellerbee hinunter auf die noch belebte Straße, doch er erkannte nichts außer dem eigenen Gesicht mit dem verzweifelten Ausdruck, das sich im Fenster spiegelte.
    Er hätte nicht angeben können, wann alles begonnen hatte oder weshalb. Er, der Zweifel an sich selber nie gekannt hatte, fühlte sich plötzlich hilflos wie ein Blatt im Wind, konnte nicht verhindern, dass er am ganzen Leib bebte…
    In allen Herzen gibt es finstere Winkel, in denen der Wunsch lebt, ein geliebter Mensch möge sterben. Gelächter kann tödlich kränken, der Anblick von Schönheit als Vorwurf empfunden werden.
    Er trat an seinen Schreibtisch, auf dem sich Papiere und Tonbandkassetten türmten - die Krankengeschichten seiner Patienten. Er starrte auf diese Anhäufung von Ängsten, Wut, Begierden und Furcht. Jetzt gehörte seine eigene Lebensgeschichte ebenfalls dorthin, sein Dasein war nicht mehr wie ehedem geordnet und heiter, sondern Teil dieses Chaos.
    Die Hände tief in den Hosentaschen, wanderte er gesenkten Kopfes durch die Praxis. Er bedachte die schlimme Lage, in der er war, erwog, welche Möglichkeiten ihm noch blieben; es wurden immer weniger. Flüchtig ging ihm die Frage durch den Kopf: Kann ich, als Therapeut, einen anderen Therapeuten um Rat bitten?
    Die Seele sehnt sich nach Reinheit, und doch gieren wir allesamt nach dem Ausgefallenen, Abartigen. Das Böse ist nichts als ein Wort, und was niemand sieht, weiß auch keiner — es sei denn, Gott wäre wirklich ein ruheloser Geschaftelhuber.
    Er streckte sich auf dem Kanapee aus, das einige seiner Patienten unbedingt benutzen wollten, während er dieses klassische Möbel des Psychotherapeuten selber für Firlefanz, ja, oft genug für schädlich hielt. Aber da lag er nun selber und suchte Ordnung in die einander jagenden Gedanken zu bringen, doch es gelang ihm ebenso wenig wie den vielen anderen, die es zuvor auf diesem Prokrustesbett schon probiert hatten.
    Er stand ächzend wieder auf und nahm von neuem die rastlose Wanderung auf. Er starrte wieder aus dem Fenster, aber außer der regennassen Finsternis sah er auch jetzt nichts.
    Worauf es nun ankam, das wurde ihm klar, war, sich mit der Ungewissheit abzufinden. Er, ein bislang einzig von der Vernunft geleiteter Mensch, würde sich zurechtfinden müssen in einer Welt, in der es keine Gewissheiten gab, die vom Zufall bestimmt wurde. Es musste gar nicht unbedingt schlimm, es mochte manchmal sogar befriedigend sein, wie blind einem nur geahnten Ziel zuzutreiben. Was anders, wenn nicht dies, war schließlich die Kunst?
    Die Klingel der Haustüre schrillte dreimal - das mit spät kommenden Patienten ausgemachte Signal. Er schreckte zusammen, ging eilig ins Vorzimmer, drückte auf den Türöffner, schob den Riegel der Tür ins Treppenhaus zur Seite und löste die Sperrkette.
    Ein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Das sandfarbene Haar mit den feuchten Handflächen geglättet, den Schlips zurechtgerückt, so trat er an die Korridortür, um seinen Besucher mit dem gewohnten Lächeln zu begrüßen. Doch als die Tür aufging und er sah, wer da draußen stand, kam nur ein ersticktes Ächzen aus seiner Kehle, er schlug die Hände vors Gesicht, um seine entsetzte Miene zu verbergen, und wandte sich mit hängenden Schultern ab.
    Der erste wuchtig geführte Schlag traf seinen Hinterkopf und ließ ihn vorwärtstaumeln, die Knie schon eingeknickt. Der zweite Schlag warf ihn um, er Biss in den dicken Teppichboden.
    Wieder und wieder sauste die Waffe auf ihn herab und zertrümmerte seinen Schädel total. Da war Dr. Simon Ellerbee aber schon tot, waren seine Träume vergangen, alle Zweifel zerstreut, alle Fragen beantwortet.

2
    Am Montag erschien der Himmel gereinigt; Straßenpassanten trugen den Mantel geöffnet, die Sonne lachte. Zwar ging ein etwas beißender Wind, doch der frühe Wintertag war heiter, die Auslagen waren weihnachtlich dekoriert, Straßenhändler boten heiße Brezeln und geröstete Kastanien feil.
    Edward X. Delaney, ehedem Chef der New Yorker Kriminalpolizei, spürte diese Belebung sehr deutlich. Die Stadt, seine Stadt, hatte ein flotteres Tempo eingeschlagen, gewissermaßen von ›andante‹ zu ›con anima‹ gewechselt. Die Luft roch nach Geld. Die Jahreszeit verlockte zu
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