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Die Bibliothek

Die Bibliothek

Titel: Die Bibliothek
Autoren: Umberto Eco
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UMBERTO ECO
    DIE
    BIBLIOTHEK

    Hanser

    UMBERTO ECO
    DIE BIBLIOTHEK

    Aus dem Italienischen
    von Burkhart Kroeber

    Carl Hanser Verlag

    eginnen wir, angesichts der Ehrwürdigkeit unse-Bres Gegenstandes, mit einer Lesung aus der Schrift; nicht zu Informationszwecken, denn wenn man aus einem heiligen Buch liest, wissen schon alle, was es besagt, sondern in liturgischer Absicht, zur rechten Einstimmung des Geistes. Also:
    »Das Universum (das andere die Bibliothek nennen) setzt sich aus einer unbegrenzten und vielleicht unend-lichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit wei-ten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefaßt sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: ohne ein Ende. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten au-
    ßer zweien: ihre Höhe, die sich mit der Höhe des Stockwerks deckt, übertrifft nur wenig die Größe eines normalen Bibliothekars. Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Gale-7

    rie, genau wie die erste, genau wie alle, einmündet.
    Links und rechts am Gang befinden sich zwei winzig-kleine Kabinette. In dem einen kann man im Stehen schlafen, in dem anderen seine Notdurft verrichten.
    Hier führt die Wendeltreppe vorbei, die sich abgrund-tief senkt und sich weit empor erhebt. In dem Gang ist ein Spiegel, der den Schein getreulich verdoppelt. (. . .) Auf jede Wand jeden Sechsecks kommen fünf Regale; jedes Regal faßt zweiunddreißig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus vierhundertzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus etwa acht-zig Buchstaben von schwarzer Farbe. Buchstaben finden sich auch auf dem Rücken jeden Buches; doch bezeichnen diese Buchstaben nicht, deuten auch nicht im voraus an, was die Seiten sagen werden. Ich weiß, daß dieser fehlende Zusammenhang zuweilen myste-riös angemutet hat.
    Vor fünfhundert Jahren stieß der Chef eines höheren Sechsecks auf ein Buch, das so verworren war wie die anderen, das jedoch fast zwei Bogen gleichartiger Zeilen aufwies. Er zeigte seinen Fund einem wandernden Entzifferer, der ihm sagte, sie seien in Portugiesisch abgefaßt; andere sagten dagegen, in Jiddisch. Vor Ablauf eines Jahrhunderts konnte die Sprachform bestimmt werden: es handelte sich um eine samoje-disch-litauische Dialektform des Guarani mit einem Einschlag von klassischem Arabisch. Auch der Inhalt wurde entschlüsselt: es waren Begriffe der kombinato-rischen Analysis, dargestellt an Beispielen sich unbegrenzt wiederholender Variationen. Diese Beispiele versetzten einen genialen Bibliothekar in die Lage, das Grundgesetz der Bibliothek zu entdecken. (. . .) 8

    Die Ruchlosen behaupten, daß in der Bibliothek die Sinnlosigkeit normal ist, und daß das Vernunftgemäße (ja selbst das schlecht und recht Zusammenhängende) eine fast wundersame Ausnahme bildet. Sie sprechen (ich weiß es) von der »fiebernden Bibliothek, deren Zu-fallsbände ständig in Gefahr schweben, sich in andere zu verwandeln, und die alles behaupten, leugnen und , durcheinanderwerfen wie eine delirierende Gottheit«.
    Diese Worte, die nicht nur die Unordnung denunzie-ren, sondern sie mit einem Beispiel belegen, liefern einen offenkundigen Beweis des verwerflichen Geschmacks der Urheber und ihrer verzweifelten Unwissenheit. In der Tat birgt die Bibliothek alle Wortstrukturen, alle im Rahmen der fünfundzwanzig Schriftzeichen möglichen Variationen, aber nicht einen absoluten Unsinn. (. . .)
    Sprechen heißt: in Tautologien verfallen. Diese überflüssige und wortreiche Epistel existiert bereits in einem der dreißig Bände der fünf Regale eines der un-zähligen Sechsecke - und auch ihre Widerlegung. (Ei-ne Zahl n möglicher Sprachen verwendet den gleichen Wortschatz; in einigen erlaubt das Symbol Bibliothek die korrekte Definition überall vorhandenes und fortdau-erndes System sechseckiger Galerien, aber Bibliothek ist Brot oder Pyramide oder irgend etwas anderes, und die sieben Wörter, die sie definieren, haben einen anderen Bedeutungswert. Bist du sicher, Leser, daß du meine Sprache verstehst?«
    Amen.
    9

    er Abschnitt stammt, wie jeder weiß, von Jörge D Luis Borges, aus seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel*, und ich frage mich, ob nicht mancher von unsern Lesern, Bibliotheksbenutzern, Bibliothekaren beim Wiederlesen und Wiederbedenken dieser Seiten an eigene
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