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Lerchenherzen

Lerchenherzen

Titel: Lerchenherzen
Autoren: Margaret Skjelbred
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wehmütig-traurigen Schatten haben. Du schaust, und du schaust mich an. Kannst du dich an deiner sonderbaren, traurigen Mutter nicht satt sehen?
    Harriet sagte gestern etwas zu mir, aber ich glaube ihr nicht. Sie sagte: »Du wirst wieder fröhlich sein, Solfrid, in einigen Monaten oder Jahren. Zuerst nur ein klein wenig, fast schuldbewußt, als ob du dich schuldig fühltest, weil du lebst und er tot ist. Oder als ob es schlecht von dir sei, die tiefe Trauer zu beenden.« Sie sagte, das erste Jahr sei das Schlimmste, weil alles das erste Mal sei: das erste Weihnachtsfest und der erste Geburtstag. Die erste Rückkehr aus der Walfangsaison, ohne auf jemanden zu warten. Beim nächsten Mal tut es ein bißchen weniger weh, sagte sie, und Harriet hat sich nun wirklich Gedanken um die Trauer gemacht.
    Lange schon wollte ich dir die Geschichte von Harriet Lund erzählen, aber ich habe es bislang nicht getan, weil sie so traurig ist. Sie hat nochmehr Trauriges erlebt als ich, und dennoch sah sie so jung und fröhlich aus, als sie gestern zu Besuch bei uns in unserer Kammer war. – Hast du gehört, jetzt habe ich unsere Kammer gesagt und nicht Mathildes!
    Du betrachtest mein Gesicht so eingehend, als ob du auch nicht das kleinste Detail verpassen wolltest, und du lauschst auf meine Stimme, als ob du jedes Wort verstündest, das ich sage. Dabei ist das Lächeln, das manchmal rasch über dein Gesicht huscht, so fehl am Platze, daß du mich nicht an der Nase herumführen kannst.
    Deine Augen sind von tiefem Dunkelblau, sie glänzen unglaublich. Noch haben ihnen weder Freude oder Trauer Ausdruck verliehen. Wenn du mir etwas schickst, das einem Lächeln ähnelt, ist das oft nur, weil du ein diffuses Behagen verspürst, das ist mir schon klar, aber trotzdem wirkt es ab und zu so, als lächeltest du zu meinen Geschichten. Doch wenn du weinst, kann dich nur meine Brust beruhigen.
    Für mich ist es unfaßbar, daß alle meine Geschichten, die frohen und die traurigen, diese ganze Welt, einmal in deinem winzigen Köpfchen Platz haben sollen! Das so unendlich weich auf meiner Handfläche ruht, wenn ich jetzt vornübergebeugt auf Jakobs alter wackliger Holzbank sitze, die Arme ruhen auf den Schenkeln, und ich wiege dich, wie mein Vater es mit mir machte, alsich klein war. Er hielt mich so, bis ich groß war, und ich kann mich noch heute an das Gefühl erinnern, wie mein Hinterkopf in der runden Schale ruhte, die seine Hände formten, und ich kann mich an Wörter und Melodien seiner unzähligen Lieder erinnern, viele davon selbstgedichtet und natürlich über mich. Über ihn und mich. Ich habe auch schon angefangen, dich auf die gleiche Weise zu wiegen, und es scheint, als magst du das.
    Jetzt siehst du aus, als würdest du jeden Moment einschlafen. Wenn du müde wirst, fangen deine Augen an, über Kreuz zu blicken, aber Mutter sagt, daß du nicht schielen wirst. Du würdest ein prächtiger Bursche werden, sagt Mutter. Jetzt kannst du schlafen, währenddessen erzähle ich dir die traurige Geschichte von Harriet Lund.

64
    In dem Jahr, als ich geboren wurde, brachte man Peder Lund bewußtlos von den Walfanggründen nach Hause. Er war von einer der Stahltrossen am Kopf getroffen worden. Alle glaubten, er würde sterben, aber nachdem er beinahe zwei Monate im Krankenhaus im Koma gelegen hatte, wachte er wieder auf. Da hatte er nicht mehr Verstand alsseine zweijährige Tochter. Harriet nahm ihn mit nach Hause, und in all diesen Jahren ist er ihr wie ein großer Teddybär gefolgt. Wenn man ihn anspricht oder streichelt, lächelt er blöde und wiegt sich heftig hin und her, aber es kommen nur unverständliche Laute, und wenn er nicht bekommt, was er will, kann er sehr schwierig werden.
    Ich habe ihn ja vorher nicht gekannt, aber die Erwachsenen sagen, daß Peder ein gutaussehender Mann war. Er saß in der Gemeindevertretung und war aktiv und in vielerlei Hinsicht geschickt: »Sollte mich nicht wundern, wenn Peder Gemeindevorsteher geworden wäre«, sagt Vater. Daß er ein stattlicher Mann war, kann man noch heute sehen.
    Peder arbeitete mit Trabrennpferden und wollte nur die eine oder andere Saison beim Walfang mitmachen, um Geld für einen Zuchthengst anzusparen, aber mitten in der vierten Saison kam er mit dem Krankentransport heim, und seither war er das, was er heute ist: ein lallendes, sabberndes, hilfloses, riesengroßes Kind, mit dem Harriet alle Hände voll zu tun hat.
    Ihre kleine Tochter Åshild war ein niedliches Kind mit blonden
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