Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lerchenherzen

Lerchenherzen

Titel: Lerchenherzen
Autoren: Margaret Skjelbred
Vom Netzwerk:
Locken und braunen Augen. Ich kann mich an sie erinnern, sie ertrank im Fluß, als sie sechs Jahre alt war.
    Man sagt, damals hätte Harriet beinahe den Verstand verloren. Vater war es, der Åshild fand, erhatte mitgeholfen, den Fluß abzusuchen. Das Unglück passierte im Frühjahr, ehe die Walfänger nach Hause gekommen waren, und deshalb gab es im Ort nur wenige Männer. Aber die, die da waren, suchten gemeinsam mit den Frauen, als Åshild verschwunden war, und als sie den kleinen Roller am Flußufer fanden, war sofort klar, was passiert war.
    Der Fluß war von der Schneeschmelze geschwollen, aber Åshilds kleiner Körper hatte sich an den niedrigen Zweigen einer Schwarzerle verfangen, sonst wäre sie vermutlich bis nach Gogsjø hinausgetrieben und vielleicht erst viele Wochen später gefunden worden.
    Vater hat so gut wie nie über das Geschehene gesprochen, aber das Erlebnis hatte ihn so tief beeindruckt, daß er nachher nie mehr im Fluß gebadet hat, auch nicht in der Kjønna. Er, der stets so lebenslustig und fröhlich war, wurde stiller, und er weigerte sich mitzugehen, wenn die Leute aus dem Ort zum Johannivergnügen nach Kjønna zogen. Er schob vor, er müsse zu Hause bleiben bei Mutter, und ließ mich mit Ragnhild und Lars hingehen. Nils-Jan und ich rannten so ausgelassen … nein, jetzt will ich nicht an Nils-Jan denken!
    Mir scheint, man könnte daran zerbrechen, wenn man sich diese grenzenlose Verzweiflung Harriets vorstellt, als Vater mit ihrer toten kleinen Tochter auf seinen Armen kam. Ragnhild sagt,Harriet habe so geschrien, daß sie, Ragnhild, noch Jahre später nachts mit Harriets Schrei im Ohr hochschreckte. Und bestimmt ist sie nicht die einzige, der es so ging.
    All die Trauer, der Harriet keinen Ausdruck verleihen konnte, als sie ihren Mann verlor – denn sie hat ihn ja verloren und bekam ein lallendes Kind dafür –, all diese Trauer erreichte ihren Höhepunkt, als sie ihr einziges Kind verlor.
    Auch wenn du schläfst, mein kleiner Jakob, muß ich dich jetzt hochnehmen, denn den Gedanken, ich könnte dich auch verlieren, kann ich nicht aushalten. Ich halte dich so fest, wie es irgend geht, und schluchze in deinen warmen, weichen und nach Milch duftenden Nacken: »Lieber Gott, lieber Gott im Himmel, du mußt mich vor Jakob sterben lassen. Eine Trauer wie die von Harriet könnte ich nicht ertragen.«
    Als Harriet gestern hier war, schien sie fröhlich zu sein. Um meinetwillen war sie traurig, natürlich, und wie alle anderen aus dem Ort trauert sie um Nils-Jan, aber die Freude, die aus ihren Augen strahlte, konnte sie nicht verbergen. Freude und Verliebtheit.
    Denn sie hatte Lyder bei sich, wie sie ihn nennt, und seine beiden Töchter. Für mich wird er wohl nie Lyder sein, denn ich habe mir angewöhnt, an ihn als Lehrer Halvorsen zu denken, oder einfach nur als Lehrer.
    Ich hatte die Schule schon abgeschlossen, als er vor einigen Jahren in den Ort kam, zur gleichen Zeit, als im Nachbarort die neue Nervenklinik eröffnet wurde. Sie war der Grund, warum er sich hierher versetzen ließ. Er kam von einer kleinen Insel der Lofoten, deren Namen ich vergessen habe.
    Die Zwillinge sind sechs oder sieben Jahre alt, und man mag kaum glauben, daß sie Geschwister sind, so wenig ähneln sie sich. Bei ihrer Geburt ging etwas schief, und seine Frau glitt in eine Art Koma, aus dem sie nie wieder richtig erwachte. Sie erwachte schon, nur so ähnlich wie Peder, und sie war wohl noch hilfloser als er.
    Eigentlich sollte sie wohl nicht in einer Nervenklinik, sondern in einem Pflegeheim untergebracht sein, aber Halvorsen wollte gerne, daß sie in diese neue Einrichtung kommt. Ich glaube, er hatte die wenn auch winzige Hoffnung, daß ihnen ein Wunder widerfahren könnte. Es heißt, die Klinik hier sei die neueste und modernste des Landes für Nervenkrankheiten. Ich hatte mir vorgenommen, dort zu arbeiten, aber dann hast du dich angemeldet und den Plänen ein Ende gemacht.
    Du bist ein bißchen unruhig geworden, sicher sollte ich dich jetzt wieder in die Tragetasche legen und nicht länger auf dem Arm halten. Mein lieber kleiner Jakob, wann werde ich von dieser ängstlichen Unruhe loskommen, auch dich noch zu verlieren?
    Halvorsens Frau war nur ein Jahr lang in der Nervenklinik, dann starb sie an einer Lungenentzündung. Da hatte sich Harriet Lund endlich überreden lassen, Peder probeweise dort unterzubringen, zuerst nur zur Entlastung an den Wochenenden. Als sehr bald jedoch deutlich wurde, daß er sich dort
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher