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Lerchenherzen

Lerchenherzen

Titel: Lerchenherzen
Autoren: Margaret Skjelbred
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ehe der Kühlschrank in unserer Küche Einzug hielt. Wie immer schimpfte Mathilde vor sich hin: »Kinder, seid vorsichtig mit dem gefährlichen Brunnen!« Als ob wir das nicht selber wüßten!
    Dann trugen wir den Safteimer zwischen uns zur Scheunenauffahrt und wurden auf den leeren Heuwagen gehoben, wenn er aus der Scheune heruntergefahren kam. Wir saßen ganz hinten im Wagen mit dem Eimer zwischen uns und lehnten unsere von der Sonne gewärmten Beine gegen das eiskalte, nasse Metall und bekamen von dem Kälteschock einen Schluckauf. Den ganzen Sommer lag über der Bräune unserer Haut ein weißer Schleier, und wir amüsierten uns damit, unsere Finger naßzumachen und Buchstaben darauf zu malen, er bei mir und ich bei ihm.
    Wie oft habe ich wohl seine Finger auf meiner Haut gespürt und auf wie viele verschiedene Arten? Wie tief kann man um einen anderen Menschen trauern? Was würde ich nicht dafür geben,nur noch ein einziges Mal dieses Lustgefühl zu spüren, wenn meine Haut unter seinen geschickten Fingern eine Gänsehaut bekommt.
    Ein Spiel haben wir, als wir klein waren, besonders geliebt. Wir spielten auf dem Rücken des anderen Frühjahrsbestellung. Pflügen, eggen und einsäen und plattwalzen, rauf und runter auf dem Rücken, erst er auf meinem und dann ich auf seinem. Oder, als wir größer waren und Schreiben gelernt hatten, malten wir Buchstaben und mußten dann die Botschaft erraten. Ich kann noch heute das Gefühl seiner Handfläche spüren, wenn er das Geschriebene wieder »auswischte«, um es noch einmal zu schreiben.
    Wir amüsierten uns mit diesem Spiel in unserer letzten Nacht in Jakobs Scheune im vorigen Herbst, aber da endete das Spiel ja auf eine ganz andere Weise als in unserer Kindheit. Ich denke gerne, daß wir dich, Klein Jakob, vielleicht in dieser unserer allerletzten Nacht zeugten, obwohl ich weiß, daß es wahrscheinlich früher war. Als ob du sein letztes Geschenk an mich seist.
    Du schläfst jetzt genauso unschuldig in meinen Armen wie er in jener Nacht. Heute sind wir alle nach der Versorgung des Viehs wieder ins Bett gegangen, etwas, das wir nicht oft tun, nicht einmal sonntags. Diese Nacht ist für uns alle drei aufreibend gewesen, nicht deinetwegen, auch wenn dein heftiges Schreien der Auslöser war.
    Stundenlang hast du gebrüllt und geschrien, zuerst hier in der Kammer, wo ich verzweifelt versuchte, dich zu beruhigen, und dann draußen in der Küche. Natürlich waren sowohl Ragnhild wie Lars auf den Beinen. Wir kochten Kaffee und spazierten abwechselnd mit dir auf und ab.
    Ich glaube, es war, weil du so gequält gewirkt hast – daß eine gewöhnliche Kolik eine solche verzweifelte Reaktion hervorrufen kann! Das und die Hilflosigkeit, die wir alle spürten, weil es uns nicht gelang, dich zu trösten, trugen wohl dazu bei, daß Lars zusammenbrach. Dieser riesengroße, unerschütterliche Mann lag plötzlich über dem Küchentisch und weinte so heftig, daß der Tisch bebte.
    Und da spürten Ragnhild und ich, daß es für Lars vielleicht am allerschlimmsten ist, auch wenn er es am wenigsten gezeigt hat. Oder vielleicht gerade deshalb. Wir haben doch gejammert und geweint und geredet. Tage- und nächtelang geredet und geredet, während Lars wie ein stummer Schatten umherging, mit Augen wie schwarze Brunnen von eingesperrter Verzweiflung, das sehe ich jetzt im nachhinein.
    Er hat so wenig gesagt, als er mit seinem einzigen Sohn im Sarg im Winter nach Hause kam, so wenig von dem berichtet, was eigentlich geschehen war. Was geschehen war, wußten wir ja, aber wie er es empfand, davon hatten wir keine Ahnung.Vermutlich hatten wir mit unserer eigenen Trauer genug zu tun, Ragnild und ich.
    Lars war es, der in diesen zwei schrecklichen Tagen an Nils-Jans Bett gesessen hat, nachdem sein Blinddarm geplatzt war. Was ihm fehlte, wußte ja keiner, nur daß es ernst war und schmerzhaft, das begriffen alle, die ihn sahen. Der Arzt getraute sich nicht zu operieren, und das Schiff wurde nach Kapstadt beordert, aber dein Vater starb, noch ehe sie an Land gehen konnten.
    Ach du dummer, tapferer Nils-Jan, warum hast du nichts von deinen Leibschmerzen gesagt! Warum bist du bleich und still umhergeschlichen, ohne Lars etwas zu sagen! Weil ihr nach dem schlechten Saisonstart endlich Wale gesichtet hattet?
    Lars wird niemals eine Antwort bekommen auf die Fragen, die er in der Nacht über dem Küchentisch unter Schluchzen hervorstieß, die Arme hilflos über dem Kopf. Keiner von uns wird die Antworten je
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