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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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eingerichtet. Unsere Jungs haben auch permanent Kontakt miteinander. Also, Wowka, der lernt allein, er will das selbst so, und wenn er genug vom Alleinsein hat, ist er gleich wieder von seinen Kameraden umgeben. Und nicht nur Wowka, die anderen genauso. Ich bin hingegen vollkommen allein, ich habe keine gute Freundin, keinen Kameraden.
    Mama möchte manchmal, dass ich sie küsse, will mich herzen, aber ich laufe traurig herum, weil schwermütige Gedanken durch meinen Kopf schwirren. Dann möchte ich einfach weinen, schreien. Aber nach außen hin reiße ich mich zusammen, nur innen drin funktioniert das nicht. Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, dass mir irgendetwas fehlt. Wenn Mama nicht zu Hause ist, will ich, dass sie heimkommt, wenn sie zu Hause ist, sehne ich mich danach, sie nicht sehen zu müssen, sie nicht hören zu müssen. Ich habe sie beide über. Mama und Aka.
    Ich will neue Gesichter, neue Bekanntschaften, etwas Neues. Irgendwas. Aber es gibt nichts Neues – und ich kann nicht mehr. Ich will jetzt irgendwohin weg­rennen, ganz, ganz weit weg, um niemanden hören und niemanden sehen zu müssen. Keinen einzigen Menschen. Nein. Ich gehe, ich will zu meiner allerbesten Freundin, die mich liebt, und ihr meinen ganzen Kummer erzählen. Alles, einfach alles. Dann würde es mir besser gehen.
    Aber ich habe niemanden, ich bin einsam. Und ich kann das niemandem sagen. Mama kann ich es nicht sagen. Sie wird mich küssen, mich tätscheln, sagen: »Da kann man nichts machen.« Sie denkt, dass ich keine Freundinnen habe, weil ich besser bin als sie, weil sie alle schlechter sind als ich. Töricht, sie versteht vieles einfach nicht. Sehr vieles. Ich bin ganz gewöhnlich, ich unterscheide mich überhaupt nicht von ihnen. Vielleicht mache ich mir mehr Gedanken. Aber das ist kein Vorteil, das ist ein Laster. Dass ich die ganze Zeit nachdenke, noch wichtiger, dass ich jeden meiner Schritte analysiere, überdenke – ist das etwa kein Laster? Wenn ich zumindest etwas weniger nachdächte, wäre ich ohne Sorgen und das Leben einfacher.
    Nun, ich sollte schlafen.
    28. Mai
    Habe die Deutschprüfung bestanden. Vollkommen problemlos. In unserer Klasse gab es dreizehn Mal »sehr gut«. Wowa hat ein »gut« bekommen. Weiß nicht, warum. Seine Antworten reichten gerade so für ein »unbefriedigend«. Und dabei hatte er eine ganz leichte Aufgabe. Morgen ist die Algebraprüfung. Bald, bald bin ich frei. Ich habe viele Pläne.
    Wir fahren dieses Jahr nicht auf die Datscha. Kein Geld. Muss auch nicht sein, es ist sogar gut, ich habe schon lange keinen Sommer mehr in der Stadt verbracht. Ich werde auf jeden Fall arbeiten. Und mir neue Kleidung kaufen. Ich bin ja schon 16 Jahre alt, und ich habe nichts Anständiges, »Modisches« anzuziehen. Außerdem werde ich jeden Tag, vom 7. Juni an, Deutsch lernen, um in der neunten Klasse eine gute Schülerin zu sein und das Wort »leistungsschwach« nicht mehr zu hören. Außerdem ist es mir peinlich, in Chemie mit einem »befriedigend« mitzukommen. Ich habe so oft Anna Nikiforowna und ihre Adka … 7 gesehen. Nein, ich muss in der neunten Klasse in Chemie ein »sehr gut« erreichen. In der neunten Klasse wird man in Chemie geprüft. Und ich muss das ganze Jahr lang brav Chemie lernen und die Prüfung mit einem »sehr gut« ablegen. Und dafür 8
    30. Mai
    Das Wetter ist schön. Aber ich leide an Herzschmerzen. Heute hat Mama Geburtstag, aber wir haben nichts. Ja, wir hungern natürlich nicht, aber das ist kein großer Grund zur Freude. Wir leben die ganze Zeit von fremdem Geld. Mama leiht ständig Geld. Es ist schon peinlich, den anderen in der Wohnung 9 zu begegnen, allen schulden wir was. So haben wir noch nie gelebt.
    Gestern hatten wir die Algebraprüfung. Wowa hat mit »gut« bestanden, ich mit »sehr gut«, Ljusja mit »befriedigend«. Von den anderen weiß ich nichts. Am 28. habe ich den ganzen Abend bei Wowka verbracht. Wir, Wowka, ich und Dima, haben Text- und Rechen­auf­gaben gelöst, aber noch mehr geschwatzt. Wowka kann das mit viel Scharfsinn. Unser Verhältnis ist jetzt besser als im Winter. Er grüßt mich nun immer wie einen guten Kameraden. Und das finde ich sehr angenehm. Und überhaupt, je mehr Zeit ich mit ihm verbringe beziehungsweise bei ihm, umso weniger denke ich an meine Liebe zu ihm. Aber sobald ich ihn lange nicht sehe, beginne ich wieder, ihn zu lieben. Diesen Sommer haben wir uns ja vorgenommen, ihn endlich mal einen Tag lang zu besuchen. Aber jetzt haben wir es uns
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