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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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es?
    Eine Woche später, als man uns eine dünne Mappe mit Briefen und Postkarten brachte, wurde klar: Ja, sie ist es. Kein Zweifel, dafür gab es zu viele Übereinstimmungen zwischen ihren Briefen und dem Tagebuch. Wir erhielten eine Antwort auf die wichtigste Frage: Lena Muchina wurde aus Leningrad im Juni 1942 evakuiert und lebte vier Jahrzehnte später in Moskau.
    In der Mappe waren nicht nur die Briefe, sondern auch Umschläge mit Adressen und Erzählungen von Verwandten, von denen einige im Tagebuch erwähnt werden. Vielleicht lebt sie noch immer? Vor dem ersten Telefonanruf nach Moskau waren wir aufgeregt: Rufen wir die Richtigen an? Wie werden sie unsere Fragen aufnehmen? Am anderen Ende der Leitung herrschte zu Beginn ein wenig Verwirrung: »Ja, Jelena Wladimirowna Muchina kennen wir. Was für ein Tagebuch? Sie hat es während der Blockade geführt? Davon hat sie nichts ­erzählt …«
    Dennoch sprachen wir von ein und demselben Menschen. Jelena Wladimirowna lebt nicht mehr. Aber ihre Nichte Tatjana Sergejewna Mussina und deren Mann Raschid Maratowitsch zeigten sich unserer Untersuchung gegenüber verständnisvoll. Die Fotoalben, Briefe Jelena Wladimirownas, ihrer Mutter und »Mama Lenas«, die sie aufgehoben hatten, gestatteten zusammen mit den von uns gefundenen Archivmaterialien nicht nur, die uns bewegenden Fragen zu beantworten, sondern auch, die wichtigsten Züge der Biografie der Leningrader Schülerin Jelena Muchina wiederherzustellen. 141

    Erinnerung

    Während sich Lena Muchina in der Nachkriegszeit mühsam durchs Leben schlagen und Leningrad ein zweites Mal gezwungenermaßen verlassen musste, wurde an die Blockade Leningrads in Westdeutschland und der Sowjetunion höchst unterschiedlich erinnert: In der sowjetischen offiziellen Erinnerungskultur dominierte die Erzählung von der heldenhaften Verteidigung der Stadt, an der die Bevölkerung als solidarische Leidensgemeinschaft aktiven Anteil genommen habe. Die Zahl der zivilen Todesopfer wurde offiziell mit 632 253 angegeben, weit unter der tatsächlichen Opferzahl. Seit dem Ende der Sowjetunion wurde das tatsächliche Ausmaß des Leidens ebenso bekannt wie das von der Sowjetführung verschwiegene Ausmaß von Kriminalität, Fehlern der Behörden und dem Mangel an Solidarität unter den Not leidenden Menschen. In Westdeutschland wurde die Belagerung Leningrads zu einem »normalen« Kriegsereignis erklärt; an die Leiden der einfachen deutschen Soldaten wurde erinnert, an die Leiden der sowjetischen Zivilbevölkerung hingegen nicht. Daran hat sich durch die Wehrmachtsausstellung und historische Forschungen in den letzten Jahren einiges geändert.
    Lenas Tagebuch bewahrt ihre eigene Geschichte der Blockade jenseits aller Mythen, von zeitlicher Distanz überformten Erinnerungen oder von Fachhistorikern ermittelten Zahlen. Außer den offiziellen Berichten im Radio hat sie nur die vielen Gerüchte als Informationsquelle über den Kriegsverlauf und die Entscheidungen der Sowjetführung. Sie muss sich auseinandersetzen mit den Anforderungen, die Propaganda und Lehrer an sie als Sowjetschülerin erheben und die ihr Denken beeinflussen. Sie ringt mit ihren eigenen Anforderungen an die Menschlichkeit, die zu bewahren ihr und ihren Mitmenschen nicht immer gelingt. Sie sucht ihren eigenen Weg zu überleben. Nicht die Heldengeschichten, die wie zu jedem Krieg auch zur Leningrader Blockade erzählt werden, darunter von Lena Muchina selbst, zeigen das wahre Gesicht des Krieges, sondern Lenas Tagebuch.

    Literatur

    Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad , Paderborn 2007.
    Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod (= ost­europa , 61. Jg., 8/9), 2011.
    Anna Reid: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941–1944 , Berlin 2011.

    135 Gero Fedtke, Jahrgang 1970, ist Historiker und Slawist. Er unter­richtete osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum und koordinierte Kooperationsprojekte mit Nicht­regie­rungs­­orga­ni­sa­tio­nen in Zentralasien, dem Kaukasus und Osteuropa. Er lebt als Übersetzer und Dolmetscher mit seiner ­Familie in ­Weimar.
    136 Frontsoldaten erhielten zu dieser Zeit 500 Gramm, Soldaten in der Etappe 300 Gramm.
    137 Göring im August 1942, zit. in: Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad , Paderborn 2007, S. 48.
    138 Schreiben der Seekriegsleitung an die Heeresgruppe Nord, zit. in: Jörg Ganzenmüller: Hunger als Waffe , in: Zeit Online , 18.7.2011. Hervorhebungen GF.
    139 Joseph Goebbels:
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