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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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Ziel belagert worden, sie nicht zu erobern, sondern ihre Bevölkerung verhungern zu lassen. Die nationalsozialistische Führung war sich bewusst, was sie tat. Joseph Goebbels notierte in seinem Tagebuch: »Es entwickelt sich hier das schaurigste Stadtdrama, das die Geschichte jemals gesehen hat.« 139
    Die UN-Konvention definiert Völkermord als »Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«, konkret unter anderem durch »die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen«. Das absichtsvolle Verhungernlassen der Bevölkerung macht im Kontext der »Hungerpolitik« die Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht zum Völkermord.
    Lena Muchina war einer der vielen Menschen, denen die Belagerer den Hungertod zugedacht hatten. Sie war Opfer eines Völkermords, den sie nur mit viel Glück überlebte. Ein Vergleich mit Anne Frank hat hierin seine Berechtigung. So wie Anne Franks Tagebuch für den Völkermord des »Dritten Reiches« an den Juden steht, so kann Lena Muchinas Tagebuch für den Völkermord an den Leningradern stehen.

    Evakuierung

    Da es zunächst so schien, als gehe Leningrad verloren, befahl die Sowjetführung im Spätsommer 1941 die Evakuierung der kriegswichtigen Industrie, der sie absoluten Vorrang vor der Evakuierung der Zivilbevölkerung einräumte, die zunächst weder befestigte Straßen noch Eisenbahnen benutzen sollte. An Industrie wurde aber 1941 viel weniger evakuiert als geplant; der Großteil der Evakuierung der Industrie fällt erst in das Jahr 1942. Die Evakuierung von Menschen begann mit den Flüchtlingen vor der vorrückenden deutschen Front, die nach Leningrad kamen oder es auf dem Weg weiter ins Landesinnere passierten. Den evakuierten Maschinen folgten Facharbeiter und Ingenieure, dann auch Parteibedienstete und wehrtaugliche Jugendliche. Eindeutige Zahlen liegen nicht vor. Allein nahezu 400 000 Kinder sollen vor der Blockade aus der Stadt eva­kuiert worden sein, von denen aber 175 400 wieder zurückgebracht wurden. Als sich der Belagerungsring um Leningrad schloss, war einerseits eine knappe halbe Million Leningrader bereits aus der Stadt evakuiert, andererseits befanden sich über 100 000 Flüchtlinge in Leningrad. Ab Mitte September ließ der Kriegsrat der Leningrader Front keine Flüchtlinge mehr in die Stadt, die nun außerhalb notdürftige Lager errichten mussten, in denen die Menschen im Winter fast ausnahmslos erfroren.
    Im Januar 1942 entschied die Sowjetführung angesichts der Hungerkatastrophe in der belagerten Stadt, die Zi­vil­bevöl­ke­rung in größerem Umfang zu eva­kuieren. Dies geschah nun über die »Straße des Lebens«; bis zu 7000 Menschen täglich konnten nun die Stadt verlassen. Die Evakuierung der Bevölkerung folgte zunächst weiterhin Nützlichkeitserwägungen: in erster Linie Fachkräfte, Arbeiter und Angehörige mit ihren Familien, die zu den evakuierten Industriebetrieben gehörten, Familien Wehrpflichtiger, Schüler und Lehrer von Spezialschulen (die unter anderem künftige Offiziersanwärter ausbildeten), Rotarmisten und deren Angehörige. Sozial Schwächere wie Kinder wurden erst ab dem Frühjahr 1942 in größerer Zahl aus der Stadt gebracht. Während des ganzen Krieges wurden etwa 1,3 Millionen Leningrader evakuiert.
    Lenas Tagebuch bestätigt diese Rangordnung: Die Klassen der Spezialschule, die ihr Freund Ljowa besucht, werden schon im Februar 1942 evakuiert; sie muss bis Juni warten und schafft es nur über Beziehungen. Ihr Tagebuch endet vor ihrer Evakuierung. Sicher gerettet war sie in dem Moment, in dem sie Leningrad verließ, noch nicht: Transporte wurden aus der Luft angegriffen, waren überfüllt, die Verpflegung unterwegs unzureichend, die Bedingungen in den Auf­nahme­lagern schlecht. Auch während der Evakuierung gab es daher nicht wenige Todesopfer. Allein in Wologda, einem der Hauptdurchgangsorte, wurden über 20 000 Leningrader in einem Massengrab beerdigt. Die Leningrader Evakuierten wurden an verschiedene Zielorte geschickt und dort angesiedelt. Man konnte aber offenbar, wie es auch Lena tat, an selbst gewählte Orte weiterreisen.

    WieLena Muchinas Tagebuch gefunden wurde

    Lena Muchinas Tagebuch gelangte 1962 mit einem Konvolut von Dokumenten in das Leningrader Parteiarchiv 140 ; die Umstände, unter denen dies geschah, sind
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