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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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Blockade-Museum, wo einzelne Seiten aus »Tanjas Tagebuch« 2 ausgestellt waren. Über das Tagebuch hatten wir in der Schule gehört, und hier im Museum konnte man einzelne Seiten sehen, wo Tanja aufzählt, wann welche Familienmitglieder gestorben sind. Es schließt mit dem Satz: »Geblieben ist nur Tanja.« Aber am Ende ist auch sie umgekommen.
    Schauder liefen uns über den Rücken beim Versuch, sich die Angst, die Verzweiflung, die Kälte, den Hunger vorzustellen, aber es erfüllte uns auch mit Stolz: Ich bin ein Kind dieser Stadt, ein Enkelkind dieser Helden! Ich muss mich würdig erweisen, eine Leningraderin zu sein. (Ja, die sowjetische Propaganda hat funktioniert.)
    Der Stolz ist irgendwo auf dem Weg nach Deutschland verloren gegangen. Manche uns von der Propaganda eingepflanzten Vorstellungen, historische Halb- und Unwahrheiten wurden zurechtgerückt, vieles vergessen. An die 125 Gramm erinnerte mich meine Großmutter, solange sie imstande war, jemanden an etwas zu erinnern. Mein Vater hortete Kon­ser­ven­dosen, und mein Bruder und ich gaben uns große Mühe, keine Witze darüber zu reißen. Am 9. Mai trafen meine Eltern ihre russischen Freunde und stießen mit einem Gläschen an und beglückwünschten sich gegenseitig. Im Schrank meiner Eltern liegt in einem Aktenkoffer, den mein Vater aus Russland mitgebracht hat und in dem er bis heute alle wichtigen Dokumente aufbewahrt, auch der Blockadeausweis meiner Großmutter. Eines Tages würde ich dieses historische Dokument erben, so dachte ich.
    Dann tauchte das Tagebuch von Lena Muchina auf. Ich las es innerhalb von vierundzwanzig Stunden, konnte es nicht aus der Hand legen. Und alles war wieder da, die Legende, der Hunger, die Helden, der Stolz, der Schauder, der Versuch, sich die Angst, die Verzweiflung vorzustellen, das schlechte Gewissen. Aber nun hatte das schlechte Gewissen einen anderen Grund: Es ging nicht ums Brot, sondern darum, dass die Blockade in meiner Erinnerung verblasst war, dass ich vergessen hatte, was meine Familie durchlebt hatte, aus welcher Stadt ich stamme. Sich das Leiden, den Hunger und die Kälte vorzustellen schmerzte nun noch mehr: Denn Lena Muchina schrieb so, wie Kinder und Jugendliche schreiben: ehrlich, unverstellt, ihrem Alter entsprechend naiv. Anfangs glaubt sie noch an die absolute Wahrheit dessen, was die Nachrichtensprecher im Radio oder die Lehrer erzählen. Sie hat die gleichen Sorgen wie alle jungen Mädchen zu allen Zeiten überall auf der Welt: Wowka, der nette, gute Junge, könnte sie weniger mögen als sie ihn, und ihre beste Freundin könnte vielleicht doch nicht die allerbeste Freundin sein. Doch diese Sorgen werden schon bald überlagert von blanker Angst: Angst vor dem Hungertod, vor dem drohenden eisigen Leningrader Winter. Vor dem Hintergrund der sich überschlagenden Kriegsereignisse, der schwindenden Hoffnungen, der quälenden, immer wiederkehrenden Träume von Essen, den steigenden Todeszahlen war die Angst nun eine andere, sie hat alles Kindliche, Naive verloren. Lena Muchina wird erwachsen, lässt die Sorgen um Jungen und Schulnoten ganz plötzlich hinter sich, viel schneller, als Kinder es eigentlich sollten. Und sie ist bald ganz allein. Ihre Mütter sterben, erst die leibliche, dann die Ziehmutter, auf einem Schlitten zieht die Sechzehnjährige sie durch den Schnee zum Massengrab. Die seitenlangen Beschreibungen ihrer Essensfantasien, die Aufzählungen all dessen, wonach sie sich sehnt, von Pfann­kuchen über Bratkartoffeln hin zu Butter auf ihrem Brot, lassen einem den Keks, den man beim Lesen knabbert, im Halse stecken bleiben. Ich las Lena Muchinas Tagebuch in vierundzwanzig Stunden, dieses wahre »Zeugnis der Geschichte«, und dieser Begriff ergab plötzlich einen Sinn. Mich schauderte, und ich war auch wieder ein bisschen stolz. Wie hatten die Lenin­grader das nur 872 Tage lang geschafft?
    Ich hätte das Tagebuch gerne meiner Großmutter gezeigt, aber sie ist heute zu alt dafür. Ich zeigte es also meinen Eltern, die zu Recht sagten, nicht meine Großmutter sollte es lesen, sondern all die anderen, die nicht wissen, was es hieß, die Blockade zu überleben. Die eine Vorstellung davon bekommen möchten, wie sich dieses grausamste Kapitel deutsch-russischer Geschichte von innen heraus anfühlte. Die jeden Tag Brot essen, so viel sie wollen, und die ihre Bonbons nicht auf mehrere Tage aufteilen müssen, so wie Lena Muchina es tat und wahrscheinlich auch meine Großmutter.
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