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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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dann sonderbar, ganz sonderbar. Inwiefern sonderbar? Weiß ich selbst nicht. Ich saß da, die Hände ­unters Kinn gestützt, und beobachtete Wowa so, dass es keiner merkte. Nein, beobachtete ihn eigentlich nicht, sondern schaute ihn einfach nur an. Für mich ist es eine Freude und eine große Erfüllung, seinen Rücken zu betrachten, die Haare, die Ohren, die Nase, den Gesichtsausdruck. Wowa saß, halb zur Seite gedreht, schaute Dimka an, der gerade geprüft wurde, und flüsterte ab und zu etwas Jan, manchmal Ljonja zu. Er hätte sich wenigstens einmal zu mir umdrehen können. Warum flüstert er mit Janka und Ljonja und wechselt vielsagende Blicke mit ihnen, während er mich wie Luft behandelt. Aber ich bin ja nicht wie die: Wowa ist kein Mädchen, ich bin kein Junge. Ich bin ja auch keine Ausnahme, mit den anderen Mädchen wechselt er ja auch keine Blicke. Für eine Minute vergaß ich mich, legte meinen Kopf auf die Bank. Aber als ich wieder zu ihm blickte, o nein, kann das wahr sein, das, wovor ich Angst hatte, da war er, mein lieber Wowka, genauso wie damals im Theater, im selben Anzug, und das Lächeln war auch dasselbe. Meine Schüchternheit war wie weggeblasen, genau, ihn, ja ihn liebe ich mehr als alle anderen, dachte ich, und war gar nicht verlegen wegen dieser Gedanken. Ich habe Ljusjas Heft mit dem Studienplan für Literatur zu mir gezogen und auf den Einband geschrieben: »Wünsche Dir, dass Du mit ›sehr gut‹ bestehst!« Ich hab ihn am Ellenbogen angestoßen und ihm das Gekritzelte hingeschoben. Er hat sich sofort umgedreht und sich anscheinend darüber gefreut, er hat über das ganze Gesicht gestrahlt und mir das Gleiche gewünscht. Ich hab irgendwas Undeutliches gemurmelt und irgendwie den Kopf geschüttelt, ich wollte ihm auf diese Weise zeigen, dass ich sicher bin, dass ich durchfalle.
    Dann wurde ich aufgerufen, ich habe mich an die zweite Schulbank gesetzt und kein einziges Mal nach hinten zu den Jungs geschaut, sodass ich Wowka nicht gesehen habe, und nicht weiß, ob er Anteil an meinem Schicksal nahm. Ich saß da und wusste, dass hinter mir noch Klassenkameraden sitzen, die noch nicht aufgerufen worden sind, und Wowka. Ich wollte so sehr, dass Wowka jetzt in diesem Moment an mich denken möge, sich Sorgen um mich macht. Vielleicht war es ja auch so. Wirklich, ich weiß es nicht. Bald wurde er auch aufgerufen, er setzte sich vor mich.
    Ich hab eine ganz furchtbare Prüfungsaufgabe gezogen, ich wusste weder etwas zur ersten noch zur zweiten Frage. Ich beschloss, ein wenig zu warten und die Prüfungsaufgabe dann auszutauschen. Mir blieb ja nichts anderes übrig. Wowa saß da, in sich zusammengesackt, und war offensichtlich nervös. Das Blatt, das er eben vollgeschrieben hatte, zerriss und zerrupfte er in seinen Händen. Dann fing er plötzlich an, sich die Haare zu raufen, dachte nach und fing wieder an zu schreiben. Zwei-, dreimal drehte er sich um, und einmal trafen sich unsere Blicke. Weißt du es? Er schüttelte unbestimmt den Kopf. Dann schrieb er wieder irgendwas …
    Ich nahm mir eine andere Aufgabe und erkannte, sobald ich einen Blick darauf geworfen hatte, dass noch nicht alles verloren war:
Leitmotive in Puschkins Lyrik
Sentimentalismus
Die Komposition von »Ein Held unserer Zeit« 5
    Das zweite Thema kannte ich gut, das dritte auch, aber das erste musste ich mir erst einmal ins Gedächtnis rufen. Aber ich war mir schon mal sicher, dass ich Literatur bestehen würde. Wowa war mit seiner Vorbereitung fertig und saß ganz am Rand seiner Schulbank, er schaute sich ganz oft um. Ich habe ihn nicht angesehen. Ich strengte mich gequält an, mir Puschkins Lyrik in Erinnerung zu rufen. Aber ich sah, dass Wowa sich um mich sorgte. Es war ihm wahrscheinlich nicht entgangen, dass ich vor der zweiten Prüfungsaufgabe saß, und dann hatte ich auch noch diesen bekümmerten Gesichtsausdruck. Aber was schrecklich ist: Wenn ich es schaffe, dass jemand anfängt, sich für mich zu interessieren, versuche ich immer, mit allen Kräften unsichtbar zu werden, weil ich Angst habe, dass andere etwas davon mitbekommen. Wirklich, wie dumm das von mir ist! Aber es ist so. Wowa hat es geschafft, mich zu fragen, indem er mir in die Augen blickte (er blickt einem immer, wenn er mit einem spricht, direkt in die Augen, was ich häufig nicht kann), ob ich die Antworten weiß. Ich habe bejahend genickt, und er entspannte sich.
    Dann, nach Grischka, kam er dran. Er sprach deutlich, klar, schnell. Sie haben ihn gar nicht
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