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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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5. August 1991, zwei Wochen vor dem Putsch gegen das sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow und vier Monate vor der Auflösung der Sowjetunion.
    »Solange ich lebe, will ich lieben, und wen, das werden wir noch sehen«, hatte Lena während der Belagerung in ihr Tagebuch geschrieben. Doch nach den traumatischen Erfahrungen der Blockade blieb ihr dies vom Schicksal versagt. Lena heiratete nicht, hatte keine Kinder. Häufige Krank­heiten plagten sie ihr ganzes Leben.

    Lena Muchina beginnt Tagebuch zu führen, wie sie es bei ihrem literarischen Vorbild Petschorin in Michail Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit gesehen hat. Als sie in der belagerten Stadt allein ist, wird das Tagebuch ihr letzter Freund, dem sie Leid und Freud anvertrauen kann. Sie beobachtet ihre Umwelt, ihre Mitmenschen und nicht zuletzt sich selbst genau und notiert ihre Gedanken und Re­fle­xionen in ihrem Tagebuch. Ihr Stil ist nicht einheitlich. Einerseits schreibt sie die gesprochene Sprache eines jungen Mädchens. Sie weiß, dass sie in russischer Grammatik und Orthografie nicht sicher ist; in der Schule hat sie schlechte Noten. Aber sie hat durchaus literarische Ambitionen, sucht und probiert – das Spektrum reicht von lyrischen romantischen Naturbeschreibungen bis zu pathetischen Gedichten über heldenhafte Rotarmisten. Nicht immer gelingt ihr dies so, wie sie es vermutlich gewünscht hat. Auch die Pro­pa­ganda­sprache färbt auf sie ab, vor allem in den ersten Kriegsmonaten.

    3 Heute Hauptstadt der Republik Baschkortostan, eines der russländischen Föderationssubjekte.
    4 Aka heißt mit vollem Namen Rosalija Karlowna (oder Asalija Konstantinowna) Krums-Straus, geboren 1866. In der Familie Mu­china wird erzählt, sie sei Engländerin und sei bis 1917 Gouvernante gewesen.
    Näheres zur Entdeckung und Veröffentlichung des Tagebuchs ab hier .
    Die Tagebucheinträge bis einschließlich November 1941 übersetzte Lena Gorelik, ab Dezember 1941 Gero Fedtke.
    Die Fußnoten stammen, sofern nicht anders bezeichnet, von den Übersetzern. Sie orientieren sich an den Anmerkungen der Herausgeber der Originalausgabe und ergänzen sie um Informationen für den deutschen Leser.

Lenas Tagebuch

1941
    Heute, 22. Mai
    Ich bin um fünf Uhr früh ins Bett gegangen, habe die ganze Nacht Literatur gelernt. Heute dann um zehn Uhr aufgestanden und bis um Viertel vor eins wieder die öde Literatur gepaukt. Um Viertel vor eins bin ich zur Schule gelaufen.
    Am Eingang sehe ich die Unsrigen stehen: Emma, Tamara, Rosa und Mischa Iljaschew, die haben schon bestanden und sehen ach so glücklich aus. Haben uns viel Glück gewünscht. Ich habe zu Ljusja Karpowa und Wowa Hallo gesagt. Es hatte noch nicht geklingelt, wir warteten in der Halle. In unserer Gruppe waren alle ­unsere Jungs, außer Wowka Kljatschko. Ich fragte Wowa, ob er es geschafft hat, alles zu wiederholen. Er sagte, dass er nicht alles wiederholt hat, ich wollte gern noch irgendwas zu ihm sagen, aber da war er schon bei seinen Jungs.
    Es klingelte, wir sind die Treppe hinauf und ins Klassenzimmer gegangen. Alle waren sehr aufgeregt, aber ich war ganz ruhig, weil ich mir sicher war, dass ich durchfallen würde: Die Biografien waren in meinem Kopf durcheinandergeraten, die Daten auch. Außerdem hatte ich manches noch nicht einmal gelesen. Ich muss gerechterweise anmerken, dass ich mir um andere mehr Sorgen gemacht habe als um mich selbst.
    Ljusja und ich setzten uns an die vorletzte Bank. Vor uns saßen Ljonja, Jana und in der Mitte Wowka. Das Aufrufen begann. Aber ich dachte mehr an Wowka als an die Prüfung. Nicht dass ich mir Sorgen um ihn gemacht hätte, nein, ich wollte sogar, dass er durchfällt. Ich wollte gerne mit ihm zusammen sein, mich mit ihm unterhalten, seinen Blick spüren und überhaupt ihm so nah wie möglich sein. Wenn er durchgefallen wäre, wäre er traurig und betrübt gewesen, und ich mag es sehr, ihn so zu sehen. Wenn er traurig ist, habe ich das Gefühl, dass er mir nahe ist, dann will ich meine Hand auf seine Schulter legen, ihn trösten, damit er mir in die Augen blickt und mich zärtlich, dankbar anlächelt. Jetzt war er mir auch ganz nah, ich hätte meine Hand ein bisschen ausstrecken und seinen Ellenbogen berühren können, der auf unserer Bank lag. Aber nein, ich traue mich das nicht, er ist so fern, hinter uns sitzen die Mädchen, sie werden meine Geste registrieren, neben ihm sitzen seine Kameraden. Sie werden das bemerken, sich ihren Teil denken, und das wird
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