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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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ausreden lassen und ließen ihn gehen, ohne weitere Fragen zu stellen. Danach war ich dran. Wowa verließ das Klassenzimmer. Ich vergaß ihn in diesem Moment, ich weiß nicht, vielleicht hat es ihn ja interessiert, und er hat durch das Schlüsselloch gesehen, wie ich antworte. Oder er hat mich vor lauter Freude ganz vergessen. Hat lieber seine Jungs gesucht. Er kann ja nicht ewig an mich denken.
    So. Die zweite Prüfung hinter mich gebracht.
    Heute bin ich den ganzen Tag auf der Bärenhaut gelegen. So hat sich meine Seele endlich ausgeruht. Hab noch drei Tage, das schaffe ich schon. So ist es immer bei mir, sobald ich mich ein bisschen entspanne, fällt es mir schwer, mich wieder zusammenzureißen. Und wie unbemerkt so ein Tag vergeht. Habe im Radio »Deutsche Balladen« gehört, ich mag Balladen wirklich sehr. Nach der Sendung habe ich mir Puschkin vorgenommen und alle seine Balladen hintereinander gelesen. Ist schon gut, dass es auf der Welt keine bösen Geister gibt. Die würden uns ja gar keine Ruhe ­lassen.
    Jetzt ist es ungefähr zehn Uhr. Ich hatte Mama versprochen, um neun ins Bett zu gehen. Sie kann jede Minute heimkommen. Und dann ist es so, dass ich mein Wort nicht gehalten habe. Das wäre ein Schlag gegen mein Ehrgefühl. Außerdem schäme ich mich schlicht und einfach. Aber ich kann nicht aufhören. Bin so im Schreibfluss.
    Ich habe beschlossen, mein Tagebuch nun ordentlich zu führen. Das ist auch für mich später interessant. O Gott, Aka kam ins Zimmer, und ich bin noch nicht im Bett. »Du hast es doch versprochen, dann musst du dich auch hinlegen.« »Ja, ja, ja«, antworte ich. »Gleich.« Aber in Wirlichkeit schreibe ich weiter (Aka ist rausgegangen). Ich will in meinem Tagebuch alle meine Erlebnisse beschreiben, alle, alle, so wie Petschorin 6 das gemacht hat. Es ist so spannend, sein Tagebuch zu lesen. Aber ich habe ja so ein Unrecht begangen. Ich schreibe in Mamas Notizbuch, da kann sie zornig werden. Ich werde sie schon irgendwie überreden können, und jetzt lege ich erst mal alles ­zurück an seinen Platz.
    23/V
    Zum Teufel noch mal, niemand hat mich geweckt. Bin um zehn Uhr aufgewacht. Hab schon wieder keine Morgengymnastik gemacht. Habe die Kindersendung »Amundsens Jugend« gehört. Was war er für ein hartnäckiger Mann! Er wollte etwas, und er hat es erreicht. Wenn ich ein Junge wäre, würde ich wahrscheinlich Roald Amundsen nacheifern wollen. Aber ich habe noch nie gelesen, dass ein Mädchen so an sich gearbeitet hätte. Und die Erste zu sein ist mir unheimlich.
    Ich wünschte, dass Wowa davon träumen würde, ein Polarforscher, ein Entdecker, ein Bergsteiger zu sein. Aber ich glaube, er interessiert sich gar nicht dafür, verspürt nicht den Drang, sich seinen Hals in Gletscherspalten »zu brechen«. Wobei, ich sollte ihn mal danach fragen. Aber wann soll ich ihn fragen? Vielleicht fahre ich zu ihm, um ihn auf der Datscha zu besuchen, dann können wir miteinander reden. Über die neunte Klasse, über seine Zukunft, über meine. Wenn er, natürlich, mit mir reden will. Vielleicht irre ich mich ja, vielleicht gefalle ich ihm gar nicht. Nein, kann nicht sein. Zumindest ein bisschen, ein klitzekleines bisschen gefalle ich ihm.
    Nun, ich sollte mich an die Bücher setzen. Deutsch pauken.
    Ist schon zehn Uhr abends. Ich greife wieder zur Feder. Ich war bei Ljusja Karpowa. Habe die Prüfungsergebnisse erfahren. Wowa, Grischa, Mischa Iljaschew, Ljowa, Ljonja, Jana, Emma, Tamara, Ljusja, Beba, Soja, Rosa haben mit »sehr gut« bestanden. Dimka, Mischa Zypkin mit »gut« und ein paar andere auch. Alle anderen – befriedigend: Kira, ich, Ljusja, Lida Klementjewa, Lida Solowjewa, Jasja Barkan …
    Heute habe ich sehr wenig geschafft. Habe erst abends richtig angefangen. Habe vier Abschnitte gelernt. Ljusja und ich waren heute in einem kleinen Park spazieren. Da waren Massen von Schülern. Wie in einem Ameisenhaufen. Wika war nicht da.
    Mir fehlt immer irgendetwas. Ich spüre eine Leere. Ich war mit Ljusja spazieren, war bei ihr, aber es ist irgendwie nicht das Wahre. Nein, Ljusja erfüllt mich nicht. Und sonst habe ich niemanden. Das fühle ich jetzt besonders, in den Tagen der Prüfungsvorbereitung. Ich lerne am besten zu zweit. Vor allem Deutsch. Ljusja will sich allein vorbereiten. Und überhaupt. Ljusja ergänzt mich nicht, das weiß ich schon lange. Ich beneide die anderen sehr. Emma lernt mit Tamara, Rosa mit Beba, Ljusja auch mit jemandem. Und die anderen Mädchen haben sich irgendwie
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