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Nach dem Ende

Nach dem Ende

Titel: Nach dem Ende
Autoren: Alden Bell
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    G ott ist ein schlauer Gott, das weiß Temple. Sie weiß es von all den fantastischen Wundern, die auf diesem zerstörten Globus noch zu sehen sind.
    Zum Beispiel diese discobeleuchteten Fische im seichten Wasser. Das war schon was, eine Erscheinung, wie sie ihr noch nie untergekommen ist. Es war tiefe Nacht, als sie es bemerkte, aber der Mond leuchtete so grell, dass er harte Schatten über die ganze Insel warf. So grell, dass es fast heller war als am Tag, weil sie die Dinge deutlicher erkennen konnte. Als würde die Sonne die Wahrheit verschleiern, als wären Temples Augen für die Nacht gemacht. Sie stieg vom Leuchtturm hinunter zum Strand, um einen vollen, reinen Blick auf den Mond zu haben, stand im seichten Wasser und ließ die Füße in den Sand sinken, während ihr die plätschernden Wellen die Knöchel kitzelten. Und da sah sie es, einen Schwarm winziger Fischchen, die herumflitzten wie Murmeln in einem Kreidekreis, und sie glühten elektrisch, die meisten silbern, aber einige auch golden und pink. Sie kamen und tanzten um ihre Füße, sie spürte ihre kleinen elektrischen Körper, und es war, als stünde sie zugleich unter dem Mond und im Mond. So was hatte sie noch nie erlebt. Eineinhalb Jahrzehnte ungefähr wandert sie jetzt auf dem Planeten herum, aber so was ist ihr noch nicht begegnet.
    Bestimmt könnte man behaupten, dass die Welt in schwarze Verdammnis versunken ist und dass die Kinder Kains über die Guten und Gerechten herrschen, aber eins weiß Temple ganz genau: Egal, was für eine Hölle aus der Welt geworden ist, egal, welche schlimmen Taten sie selbst begangen hat, und egal, welche Verkettung von gemeinen Missgeschicken sie hierher auf diese Insel gebracht hat, damit sie fern von der Ordnung der Menschen Unterschlupf finden kann, all diese Dinge haben dazu geführt, dass sie in dieser Nacht im taghellen Mondschein das Wunder der Fische erblickt hat, auf das sie sonst nie gestoßen wäre.
    Gott ist nämlich ein schlauer Gott. Er richtet es so ein, dass du nichts versäumst, was du aus erster Hand erleben sollst.
    Sie schläft in einem verlassenen Leuchtturm auf einer Felsklippe. Unten gibt es ein rundes Zimmer mit einer Feuerstelle, wo sie in einem schwarz angelaufenen Eisentopf Fisch kocht. Gleich am ersten Abend hat sie die Falltür im Boden entdeckt, die zu einem feuchten Lagerraum führt. Dort fand sie Kerzen, Angelhaken, einen Erste-Hilfe-Kasten, eine Leuchtpistole mit einer Schachtel oxidierter Patronen. Sie probierte eine, aber sie war kaputt.
    Morgens gräbt sie im Unterholz nach Nüssen und sieht nach ihren Fischnetzen. Die Turnschuhe lässt sie im Leuchtturm, sie spürt gern den heißen Sand an den Fußsohlen. Den Strandhafer Floridas zwischen den Zehen. Die Palmen sind wie Büsche in der Luft, die brüchigen, toten Wedel rascheln wie ein Rock aus Knochen um die hohen Stämme.
    Jeden Mittag klettert sie die Treppe zur Spitze des Signalturms hinauf und legt auf dem mittleren Absatz eine Pause ein, um zu verschnaufen und sich durch das verschmierte Fenster die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Oben macht sie eine Runde auf der Galerie. Im Gehen späht sie hinaus aufs grenzenlose Meer, dann zur felsigen Festlandküste des verseuchten Kontinents. Manchmal hält sie an, um einen Blick auf die Leuchtvorrichtung zu werfen, dieses blinde Glasauge, das wie ein umgestülpter Kessel dahängt und mit Tausenden von rechteckigen Spiegeln bedeckt ist.
    Sie sieht sich darin, deutlich und facettenreich. Eine ganze Armee von Temples.
    An den Nachmittagen blättert sie durch die nicht verrotteten Zeitschriften, die sie als Polstermaterial in Petroleumkisten entdeckt hat. Die Worte sagen ihr nichts, aber sie mag die Bilder. Sie zeigen ihr Dinge, die sie nie gekannt hat: adrett gekleidete Herrschaften, die freudig jemand in einem langen schwarzen Auto zujubeln, Leute in weißen Anzügen auf Sofas in Wohnungen ohne verkrustetes Blut an den Wänden, Frauen in Unterwäsche vor einem makellos weißen Hintergrund. Wie ein abstrakter Himmel ist dieses Weiß – wo könnte so ein Weiß existieren? Wenn sie die ganze weiße Farbe hätte, die es noch gibt auf der Welt, was würde unberührt bleiben von ihrem Pinsel? Sie schließt die Augen und sinnt darüber nach.
    Nachts kann es kalt werden. Sie lässt das Feuer nicht ausgehen und wickelt sich enger in die Militärjacke, während der Seewind laut durch die hohle Flöte ihres hohen Heims pfeift.
    Wunder oder Omen vielleicht, denn am Morgen nach den
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