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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch
Autoren: Lena Muchina
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aber auch Glück mit meinen Prüfungsaufgaben, ich ziehe immer die einfachen. Jetzt bleiben nur noch Anatomie und Physik.
    Ehrlich gesagt, habe ich Geometrie nur drei Stunden lang gelernt. Zwei Stunden gestern und heute früh eine Stunde. Aber in Geometrie hätte man gar nicht durchfallen können. Lida Solowjewa hat gar nichts gewusst, nicht bei der ersten, nicht bei der zweiten Prüfungsaufgabe, und die haben ihr trotzdem ein »befriedigend« gegeben. Wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich das irgendwie alles herleiten können. Sie konnte gar nichts herleiten.
    Jetzt kann ich nicht mehr zu Wowka gehen – habe keinen Vorwand mehr. Peinlich wäre das. Ich würde ihm am liebsten sagen: »Weißt du, Wowa, schade, dass ich kein Junge bin. Dann würde ich dich oft besuchen kommen. In deiner Familie fühle ich mich sehr wohl. Wenn ich dich früher besuchen kam, hatte ich immer die Ausrede, dass wir zusammen Algebra oder Geometrie lernen. Ohne den Vorwand ist es mir irgendwie peinlich.« Aber ich habe Angst, dass er böse wird und sagt: »Du bist ja so ›klug‹. Für mich gibt es gar keinen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen.« Oder etwas Ähnliches.
    Na egal, ich fange mal mit Anatomielernen an.
    2. Mai [Juni]
    Habe Anatomie mit »sehr gut« bestanden. Fast alle haben mit »sehr gut« bestanden.
    Heute ist fürchterliches Wetter. Erst Hagel und dann Schnee in großen Flocken. Kalter Wind fährt einem in Mark und Knochen. Von Zeit zu Zeit taucht die Sonne auf, um gleich wieder zu verschwinden.
    Ich muss nur noch die Physikprüfung ablegen. Die Zeit verfliegt unbemerkt. Bald beginnt der Sommer. Viele Taten warten auf mich. Dieser Sommer darf nicht einen Deut dem letzten ähneln. Der letzte Sommer, das war verlorene Zeit. Dieser Sommer wird anders werden, da gebe ich mein Ehrenwort des Sowjetschülers drauf. Und das wird gar nicht schwer. Man darf sich nur für keine Minute gehen lassen. Es ist nämlich so, dass ein Schüler in der Prüfungszeit einen großen moralischen Aufschwung erlebt: Er erkennt, dass er lernen und in Prüfungen Aufgaben lösen muss, aber sobald dann die letzte Prüfung bestanden ist, fühlt der Schüler so eine Leere in sich, es kommt ihm vor, als sei alles vorbei, als liege eine Ödnis vor ihm. Und genau darauf fallen einige herein, sie geben auf, und … sofort geht alles den Bach runter. In den Straßen herumstromern, Kino, ein Buch pro Monat, Aufstehen um zehn Uhr, ins Bett gehen um zwölf Uhr. So vergeht der ganze Sommer. Gleichförmig fließen die Tage dahin, unerwartet schleicht sich der Tag des Schul­beginns heran.
    Aber der Sommer kann ganz anders verlaufen, wenn man nicht aufgibt und die Faulheit überwindet. Faulheit, was ist Faulheit? Faulheit ist eine unwürdige Eigenschaft für einen Sowjetschüler. Also muss Faulheit unbedingt bekämpft werden.
    Ich werde folgendermaßen leben.
    Um sieben Uhr aufstehen. Radio hören und Morgengymnastik dazu machen.
    Die erste Zeit. Ich werde mit Mama nach Puschkino fahren, dort arbeiten. In der Pause werde ich spazieren gehen. Um fünf Uhr werde ich dort wieder aufbrechen. Um sieben Uhr bin ich spätestens zu Hause. Von halb acht bis halb neun werde ich Deutsch lernen, dann Tee trinken, Radio hören oder lesen. Um halb elf gehe ich mich dann waschen, mache Gymnastik, und um elf Uhr gehe ich ins Bett, nachdem ich das Radio zur interessantesten Zeit ausgeschaltet habe.
    Dann später, wenn Mama ihre Arbeit in Puschkino beendet hat und wir uns zusammen den Zeichnungen widmen, werde ich die Zeit folgendermaßen einteilen: Um sieben Uhr aufstehen. Radio und Morgengymnastik dazu. Um neun Uhr fange ich mit der Arbeit an. Um vier Uhr höre ich auf. Gehe spazieren. Wenn ich zurückkomme, trinke ich Tee. Eine Stunde lang lerne ich mit Aka Deutsch. Dann lesen, Radio hören.
    4. Juni
    Morgen ist die Physikprüfung. Ich bin in der ersten Gruppe dran. Folglich kann ich nicht auf den Vormittag zum Lernen hoffen, und ich lasse mich so sehr gehen, stelle meinen Kleinmut zur Schau. Ich schäme mich zuzugeben, dass ich mich nicht zusammenreißen kann. Ist doch die letzte Prüfung. Noch ein, ein letzter Kraftakt, und ich bin frei. Ich werde doch nicht zum Schluss aufgeben. Schlapp machen. Nein, nein, das darf nicht sein. Ich fange gleich zu lernen an, und wenn ich bis ein Uhr früh lernen muss, ich werde morgen bestehen. Denn wenn ich morgen nicht bestehe, ist es doch lächerlich, das würde bedeuten, dass ich meine letzten Kräfte ­umsonst mobilisiert
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