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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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es jetzt weiter, Herr Rolf? Bekommt Ihr Freund noch eine Chance von Ihnen?»
    «Ich weiß nicht   …» Nachdenklich reibt sich Rolf das gerötete Kinn. «Ich muss immer an diesen Satz vom Friedrich Rückert denken:
Das sind die Weisen, die durch den Irrtum zur Wahrheit reisen. Die bei dem Irrtum verharren, das sind die Narren
…»
    Es ist schon seltsam, denkt der Lemming: Jeder weiß etwas über die Wahrheit zu sagen, und kaum einer kennt sie   …
    «Jetzt bist du dran», sagt Klara. «Was ist mit dir? Wo hast du die letzten drei Tage gesteckt?»
    Der Lemming beginnt zu berichten. Aber schon nach wenigen Sätzen wird er von Klara unterbrochen. Sie schlägt sich an die Stirn und ruft: «Ein Wasserrohrbruch! Ein simpler Wasserrohrbruch! Warum ich nicht gleich darauf gekommen bin   …»
    Er wird die Geschichte erst später weitererzählen, am Abend, bei einer Flasche Wein. Denn im selben Moment dringt ein leises Geräusch an seine Ohren. Ein fernes Heulen, fast ein Gesang   …
    «Sag, Klara   … Wo hast du ihn eigentlich gelassen?»
    «Wen?»
    «Na, den Castro?»
    «Mein Gott, der Hund! Der Arme ist noch oben im Schlafzimmer   …» Klara springt auf. Hält in der Bewegung inne, als habe sie etwas vergessen, und sieht den Lemming an.
    «Möchtest du duschen?», fragt sie leise.
    «Danke, Klara. Gerne   …»
    Und er löst sich von ihrem Lächeln, um Castro begrüßen zu gehen.

34
    Lieber Herr Wallisch,
    verzeihen Sie mir bitte, dass ich mich erst jetzt bei Ihnen melde. Wie Sie sich vorstellen können, ist die vergangene Woche sehr aufwühlend für mich gewesen, und noch vor wenigen Tagen war ich außer mir vor – ich gebe es zu – vor Wut auf Sie. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können. Immerhin sind Sie der Auslöser für all die Dinge gewesen, die in der Ulmenklinik
geschehen sind. Ohne Ihr Auftauchen hätte Robert vielleicht seine Zehe noch, könnte noch sprechen   … Aber ohne Ihr Auftauchen wüsste ich nicht, dass er es überhaupt konnte   … Es ist alles sehr verwirrend, aber nach und nach wird mir natürlich klar, wie viel wir Ihnen zu verdanken haben. Unendlich viel.
    Ich habe lange mit der Polizeibeamtin gesprochen, die Dieter Tobler – es fällt mir schwer, seinen Namen zu schreiben   –, die ihn also seiner Strafe zugeführt hat. Ob es für das, was er getan hat, die angemessene Strafe war, wage ich zu bezweifeln. Sie hat mir erklärt, warum all diese Morde geschehen sind und was sich in jener Nacht in Roberts Zimmer zugetragen hat. Sie hat mir auch dieses Tagebuch gezeigt. Und obwohl ich die Wahrheit kaum ertragen kann, muss ich sie wohl akzeptieren. Dann ist also alles ganz anders gewesen. Dann wurde Roberts Schlaganfall bewusst herbeigeführt. Die Polizeibeamtin hat gemeint, es spreche alles dafür, dass Tobler damals, an unserem Hochzeitstag, die Insulinampullen vertauscht hat. Er hat dem Robert offensichtlich ein falsches, viel höher konzentriertes Präparat untergejubelt. Es kann nicht schwierig für ihn gewesen sein: Als Erbe einer Apotheke hatte er Zugang zu Medikamenten jeglicher Art, und als angehender Mediziner wusste er ganz genau, worauf er bei seiner Tat achten musste   …
    Denken Sie, er hat es aus Eifersucht getan? Oder einfach nur aus einer Laune, wie bei seinen anderen Opfern? Ich weiß es nicht; jedenfalls habe ich nie gemerkt, dass er tiefere Gefühle für mich hegt. Was mir wohl immer ein Rätsel bleiben wird, ist der Umstand, dass er später so hilfsbereit, so aufopfernd gewesen ist. Ohne ihn hätte Robert niemals den Pflegeplatz in der Klinik «Unter den Ulmen» bekommen. Ohne ihn hätte Simon niemals das Licht der Welt erblickt. Hat ihn am Ende doch sein verkümmertes Gewissen eingeholt? Hat er deshalb die letzten Seiten aus seinem Tagebuch gerissen? Hat er all die Verbrechen
der letzten drei Tage nur begangen, um zu vertuschen, dass er Robert und mir vor siebzehn Jahren unser Leben gestohlen hat? Ich kann es nicht glauben. Also muss ich mich wohl mit der einen Erklärung begnügen, die mir noch bleibt: Tobler war nichts als ein böser und kranker Mann. Ein abgrundtief böser, unvorstellbar kranker Mann   …
    Natürlich habe ich dem Robert alles erzählt. Und ich habe den Eindruck, es hat ihm gut getan. Er wirkt auf seltsame Weise mit seinem Schicksal versöhnt. Halten Sie mich meinetwegen für verrückt, aber ich kann es in seinen Augen sehen: Sie sind seit Simons Geburt nicht mehr so friedlich gewesen.
    Überhaupt scheint nun ein anderer Wind
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